Stirb ewig
er sich diese Verabredung gar nicht leisten, doch war es nicht sein gutes Recht, sich auch einmal zu amüsieren?
»Das Gespräch mit dem Vater muss schwer gewesen sein. Nach sieben Jahren müsste ich eigentlich daran gewöhnt sein, Leuten zu begegnen, die oft erst seit wenigen Stunden wissen, dass ein geliebter Mensch gestorben ist, aber ich finde es nach wie vor grauenhaft.«
»Es mag herzlos klingen, aber die ersten Stunden sind die besten«, meinte Grace. »Wenn Menschen gerade jemanden verloren haben, erleiden sie automatisch einen Schock. Und in diesem Zustand reden sie auch. Nach etwa zwölf Stunden rücken Freunde und Familie zusammen und machen dicht. Nach meiner Erfahrung findet man das Nützliche in den ersten Stunden heraus.«
»Magst du deine Arbeit?«
»Ja. Solange ich nicht mit Kollegen aneinander gerate, die einen beschränkten Horizont haben.«
Cleo schien mit ihrem Cocktailstäbchen etwas im Glas zu suchen und blickte dabei so konzentriert, als entnähme sie im Leichenschauhaus eine Gewebeprobe. Grace fragte sich, wie es wäre, mit ihr zu schlafen. Würde ihr nackter Körper ihn an die nackten Leichen erinnern, die sie sich zusammen angesehen hatten? Würde es ihn abstoßen, dass sich unter ihrer makellosen Haut die gleichen scheußlichen, schleimigen, fettumhüllten Organe wie bei allen Menschen verbargen?
»Roy, ich wollte dich schon lange etwas fragen. Natürlich habe ich letzte Woche das Zeug in der Zeitung gelesen. Woher rührt dein Interesse am Übernatürlichen?«
Nun spielte er mit seinem Getränk herum, drückte mit dem Cocktailstäbchen die Zitrone aus. »Als ich ein Kind war, wohnte mein Onkel, der Bruder meines Vaters, auf der Isle of Wight, in Bembridge. Ich bin jeden Sommer für eine Woche hingefahren, das fand ich toll. Sie hatten zwei Söhne, der eine war etwas jünger, der andere etwas älter als ich. Warst du schon mal in Cowes?«
»Ja, Daddy ist während der Regattawoche oft mit mir zum Segeln hingefahren.«
»Jedenfalls hatten sie ein winziges Cottage, aber gegenüber stand ein vierstöckiges elegantes Stadthaus. An einem großen Erkerfenster im obersten Stock saßen immer zwei reizende alte Damen und winkten uns zu. Als ich vierzehn war, verkauften meine Verwandten das Cottage und wanderten nach Neuseeland aus. Danach bin ich acht Jahre nicht mehr dort gewesen. In dem Frühling, bevor Sandy und ich heirateten, machten wir eine Tour, bei der wir unsere Wurzeln entdecken wollten. Ich fand es nett, ihr Cowes zu zeigen, wo ich als Kind so viele schöne Ferien verbracht hatte.«
Er zündete sich eine Zigarette an, registrierte Cleos überraschten Blick und fuhr fort: »Als wir zum Cottage meines Onkels kamen, wurde das schöne Gebäude gegenüber gerade abgerissen, weil man dort ein Mehrfamilienhaus errichten wollte. Ich fragte die Bauarbeiter, was aus den alten Damen geworden sei, und sie machten mich mit dem Bauherrn bekannt. Er hatte sein ganzes Leben in Cowes verbracht und kannte alle und jeden. Er berichtete, das Haus stünde seit über vierzig Jahren leer.«
Er zog an der Zigarette. »Zwei alte unverheiratete Schwestern hatten darin gewohnt. Angeblich hatten beide ihren Mann im Ersten Weltkrieg verloren. Sie waren unzertrennlich. Als eine von ihnen an Krebs erkrankte, beschloss die andere, nicht allein zurückzubleiben. Also vergasten sie sich in dem Zimmer mit dem Erkerfenster. Das war 1947.«
Cleo überlegte. »Und draußen hast du die beiden nie gesehen?«
»Nein. Ich war ja noch ein Kind und hab nicht darüber nachgedacht, dass sie immer nur drinnen saßen.«
»Und dein Onkel und deine Tante?«
»Ich habe später mit ihnen darüber gesprochen, habe sie deswegen in Neuseeland angerufen. Sie sagten, sie hätten mit mir zu dem Fenster hinaufgewinkt, um mir eine Freude zu machen – sie hielten die alten Damen für Fantasiegestalten.«
»Während sie dir real erschienen?«
»Ich habe es in den Zeitungsarchiven nachgelesen. Es gab Fotos von beiden, unverkennbar. Für mich stand eindeutig fest, dass ich diesen Frauen zugewinkt hatte – und sie winkten mir zehn Jahre lang zurück.«
»Erstaunlich! Die Geschichte klingt ziemlich überzeugend. Und wie erklärst du sie dir?«
Er bemerkte ihr leeres Glas. »Noch einen?«
»Warum nicht? Aber die Runde geht auf mich.«
»Ich habe dich immerhin zwanzig Minuten warten lassen, also bist du eingeladen. Keine Widerrede!«
»Solange ich beim nächsten Mal dran bin. Abgemacht?«
Sie sahen einander tief in die Augen.
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