Stirb ewig
Truths eine Frau, deren Eltern während ihrer gesamten Kindheit kein Wort miteinander gewechselt hatten.
Sechzehn Jahre bei der Polizei hatten ihn gelehrt, die Eigenarten der Gattung Mensch nie zu unterschätzen. Und die schien mit jedem Tag eigenartiger zu werden.
Er rief die Wache in Brighton an und erkundigte sich, ob jemand vom Erkennungsdienst zugegen sei. Man stellte ihn zu Joe Tindall durch, auf den er große Stücke hielt.
Tindall arbeitete akribisch, engagiert und war überaus erfinderisch. Der dünne Brillenträger mit dem schütteren Haar hatte etwas von einem verrückten Professor und war mehrere Jahre als forensischer Archäologe im Britischen Museum tätig gewesen, bevor er in den Polizeidienst wechselte. Mit ihm arbeitete Grace auch beim Fall Tommy Lytle zusammen.
»Hey, Joe, kein freies Wochenende?«
»Von wegen! Ich muss die ballistischen Untersuchungen für den Überfall auf den Juwelier machen – alle anderen haben sich verdrückt. Und dann noch die Messerstecherei von Mittwoch, danke der Nachfrage.«
»Joe, ich brauche deine Hilfe. Ich habe hier eine Erdprobe von einem verdächtigen Fahrzeug. Wie kann ich ganz schnell herausfinden, aus welchem Teil von Sussex sie stammt?«
»Wie genau musst du es denn wissen?«
»Innerhalb weniger Quadratmeter.«
»Sehr witzig, Roy.«
»Ich meine es ernst.«
»Hast du auch eine Probe aus dem vermuteten Gebiet? Ich könnte die beiden testen und abgleichen. In Sussex gibt es Kreide, Lehm, Kies und Sand.«
»Das vermutete Gebiet ist Ashdown Forest.«
»Da findest du hauptsächlich Sand und Lehm. Wir könnten auch Pollen, Fossilien, Samen, Tierkot, Gras, Wasser einbeziehen.«
»Welche Fläche könntest du eingrenzen?«
»Wenige Quadratkilometer.«
»Das ist viel zu viel. Und wie lange würde es ohne eine Probe aus dem Gebiet dauern?«
»Wochen. Außerdem brauchen wir dazu ein Riesenteam – und einen Haufen Geld.«
»Aber es wäre möglich?«
»Mit unbegrenzten Mitteln und genügend Zeit, könnte ich dir ein sehr kleines Gebiet eingrenzen.«
»Wie klein?«
»Kommt drauf an. Zwanzig, dreißig Quadratmeter vielleicht.«
»Okay, danke. Ich möchte dir etwas bringen – bist du noch eine Weile da?«
»Den ganzen Tag, Roy, und vermutlich auch nachts.«
44
EINE STUNDE SPÄTER fuhr Grace in blauem Anzug, weißem Hemd und heller Krawatte in das ausgedehnte Gewerbegebiet von Hollingbury am Stadtrand von Brighton und rollte langsam auf den Parkplatz des lang gestreckten, flachen Art-Deco-Gebäudes, in dem die Zentrale der Kriminalpolizei von Sussex untergebracht war.
Es war ursprünglich als Fabrik erbaut und vor einigen Jahren von der Polizei erworben und renoviert worden. Ohne das unübersehbare Polizeiwappen an der Fassade hätte man es durchaus für ein extravagantes Hotel halten können. Es war leuchtend weiß gestrichen und wurde von einem gepflegten Rasen gesäumt. Passierte man allerdings die Sicherheitsbeamten am hohen Gittertor und fuhr auf den Parkplatz hinter dem Gebäude, bot sich ein anderes Bild – Streifenwagen, Müllcontainer und ein enormer Zellenblock.
Grace parkte zwischen einem Polizei-Geländewagen und einem Mannschaftswagen, hielt am Hintereingang seine Kennkarte vor den Ausweisleser und trat ein. Er wies sich beim Sicherheitsbeamten am Empfang aus und stieg die üppig ausgelegte Treppe hinauf, die mit altertümlichen Schlagstöcken dekoriert war. Auf dem Treppenabsatz hing eine blaue Tafel mit den Fotos wichtiger Mitarbeiter.
Er kannte alle Gesichter. Ian Steel und Verity Smart von der Abteilung Sonderermittlungen, David Davison von der Planungsabteilung, Will Graham und Christopher Derricott aus der Wissenschaftsabteilung, James Simpson von der Technischen Einheit, Terrina Clifton-Moore vom Psychologischen Dienst und noch einige andere.
Er ging durch ein Großraumbüro voller Schreibtische, von denen die wenigsten besetzt waren.
Das ganze Gebäude wirkte modern und effizient, was Grace gefiel, da er lange Jahre in alten, unpraktischen Gebäuden gearbeitet hatte, die an Kaninchenbauten erinnerten. Er empfand es als wohltuend, dass seine geliebte Polizei, der er sein Leben gewidmet hatte, nun auch wirklich im 21. Jahrhundert angekommen war.
Da traf ihn ein Geruch, der mit jedem Schritt intensiver wurde: der dicke, klebrige, Übelkeit erregende Gestank menschlicher Verwesung, der im Laufe der Jahre unangenehm vertraut geworden war. Viel zu vertraut. Es gab keinen anderen Geruch, der sich mit diesem
Weitere Kostenlose Bücher