Stirb ewig
Mord, Entführung, Vergewaltigung, bewaffnetem Raubüberfall, Betrug und bestimmten Vermisstenfällen der Fall war –, erhielt diese auch einen Namen und wurde zentral von Sussex House aus geleitet. Deshalb stieg Roy Grace, der die Ermittlungen nun offiziell leitete, auch am Samstagabend um zwanzig nach acht, als normale Menschen zu Hause waren oder sich amüsierten, die vertraute Treppe hinauf, vorbei an der Schlagstocksammlung und den gerahmten Fotos sämtlicher Abteilungsleiter.
Er hatte sich Minuten, nachdem er Gill Harrisons Haus verlassen hatte, entschlossen, für die Suche nach Michael Harrison eine Sonderkommission einzusetzen. Ein gewaltiger Schritt, der Geld und Arbeitsstunden verschlingen würde und den er gegenüber dem Chief Superintendent und Alison Vosper rechtfertigen musste. Was zweifellos nicht einfach sein würde.
DC Nick Nicholas und DS Bella Moy, deren Abendpläne sich längst in Wohlgefallen aufgelöst hatten, waren gemeinsam mit ihrer Rekrutin Emma-Jane Boutwood unterwegs. Sie würden alles mitbringen, was in der Wache von Brighton bisher vorlag – mit anderen Worten, nicht viel.
Grace betrat die Soko-Abteilung, ein Großraumbüro mit grünem Teppich und Schreibtischen für die Mitarbeiter der leitenden Ermittler. Jeder leitende Beamte hatte sein eigenes Büro, das mit dem Namen auf einer blau-gelben Karte gekennzeichnet war.
Nach links schaute er durch eine Glaswand in das eindrucksvolle Büro des Mannes, der technisch gesehen sein direkter Vorgesetzter war – Detective Chief Superintendent Gary Weston. Sie kannten sich schon ewig. Weston war sein Partner gewesen, als Grace als unerfahrener Constable zur Kripo kam, und hatte damals auch noch ganz am Anfang seiner Laufbahn gestanden.
Weston war nur einen Monat älter, und Grace fragte sich manchmal mit leisem Neid, wie Gary dieser derart kometenhaften Aufstieg gelungen war, den er gewiss bald mit einer Stelle als Chief Constable irgendwo in Großbritannien krönen würde. Tief im Herzen kannte er die Antwort. Gary Weston war ihm weder an Fähigkeiten noch an akademischer Bildung überlegen – immerhin hatten sie gemeinsam in vielen Fortbildungen gegessen –, nein, Weston besaß einfach das feinere politische Gespür. Grace nahm es ihm nicht übel, und sie waren immer gute Freunde geblieben, aber er selbst würde mit seiner Meinung nie so hinter dem Berg halten können, wie Gary es oft getan hatte.
Halb neun am Samstagabend, von Gary keine Spur. Der Detective Chief Superintendent verstand sich aufs gute Leben und konnte Privates und Beruf mühelos unter einen Hut bringen. Die gerahmten Fotos von Windhunden und Pferden zeugten von seiner Rennleidenschaft. Die strategisch platzierten Bilder von seiner attraktiven Frau und den vier kleinen Kindern ließen die Besucher wissen, welche Priorität er seiner Familie einräumte.
Vermutlich war er gerade beim Windhundrennen, dachte Grace. Ein fröhliches Essen mit Frau und Kindern, Wetten, Entspannung, Vorfreude auf einen Sonntag im Kreise der Familie. Er sah sein geisterhaftes Spiegelbild in der Scheibe und ging weiter durch das verlassene Großraumbüro, vorbei an blinkenden Lampen auf Anrufbeantwortern, schweigenden Faxgeräten, den endlosen Schleifen der Bildschirmschoner. In Momenten wie diesen, wenn er sich der Wirklichkeit entrückt fühlte, fragte er sich, wie es sein mochte, als Geist unbemerkt durchs Leben anderer zu streifen.
Er hielt seine Karte vor den Ausweisleser, stieß die Tür auf und betrat einen langen Flur mit grauem Teppichboden, der nach frischer Farbe roch. Er kam an einem roten, filzbezogenen Anschlagbrett vorbei, auf dem SOKO LISBON stand. Darunter hing das Bild eines orientalisch wirkenden Mannes mit flaumigem Bart, der vier Wochen zuvor tot am Fuß der Klippen aufgefunden worden war. Die Autopsie ergab, dass er zum Zeitpunkt des Sturzes bereits tot gewesen war.
Die gegenüberliegende Wand war der SOKO CORMORANT vorbehalten und zeigte das Foto eines hübschen brünetten Mädchens, das man vergewaltigt und erwürgt am Stadtrand von Brighton gefunden hatte.
Bald würde es auch die SOKO SALSA geben, einen willkürlich gewählten Namen, den der Rechner von Scotland Yard für den Fall Michael Harrison ausgespuckt hatte.
Grace kam am Büro der Außenermittler vorbei und trat durch die Tür gegenüber, die in die neue Soko-Zentrale führte. Alles wirkte neu, es duftete sogar neu, wenn man vom penetranten Geruch chinesischen Essens absah, der an diesem Abend in der Luft
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