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Stirb leise, mein Engel

Stirb leise, mein Engel

Titel: Stirb leise, mein Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Götz
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sich auf ein Kissen sinken. Mareike hatte begonnen, Kerzen und Teelichte zu entzünden, die im ganzen Raum verteilt waren.
    »Ist das nicht gefährlich«, fragte er, »zwischen all dem brennbaren Zeug?«
    »Was bist du so ängstlich? Ich mach es uns nur gemütlich.«
    Gemütlich?, dachte er. Eben war sie noch total schlecht drauf, und jetzt will sie es gemütlich?
    Als endlich auch die letzte Kerze brannte, ließ Mareike sich neben ihm nieder und sah ihn an wie etwas, das nun ganz ihr gehörte.
    »Ich möchte dir von mir erzählen, Sascha«, sagte sie nach einer Weile. »Du sollst alles wissen. Alles.«

[zurück]
     
    ICH SEHE IHN an. Sascha. Sehe in dieses Gesicht. In diese erwartungsvollen Augen. Und ich will reden. Endlich reden.
    Aber … ich schweige.
    Das, was in mir ist – es formt sich nicht zu Worten. Zu Worten, die er versteht. Die das erzählen, was war.
    Was war denn?
    Gottvater, der einen Sohn wollte.
    Tristan.
    Was er bekam, war ich.
    Also sollte ich Tristan sein.
    Aber ich war es nicht.
    Ich war und bin die tagtägliche Enttäuschung.
    Mein Körper, kein Tristan-Körper.
    Sie hassen mich dafür.
    Aber Hass ist auch eine Art von Liebe. Oder?
    Und dann hören sie auf, mich zu hassen. Was ist passiert?
    Tristan wurde geboren. Der ersehnte Tristan.
    Und ich bin wieder bloß Mareike. Mareike, die keiner wollte.
    Gottvater liebt seinen Tristan. Er schaukelt ihn auf dem Knie. Er streichelt ihm über den Kopf. Er tätschelt seinen Hintern. Vor allem das macht er gerne. Und er will noch viel mehr mit ihm machen. Gottvater liebt kleine Jungs viel zu sehr. Ich weiß das. Und er weiß, dass ich es weiß.
    Und dann ist Tristan tot, und sie sagen, ich hätte ihn getötet.
    Vom Balkon gestoßen. Hier. Und das ist es, was passiert ist, Sascha, und warum die schöne neue Villa zur Ruine wurde; und mit ihr das erträumte Leben.
    Habe ich Tristan getötet?
    Ich weiß es nicht mehr. Ich weiß nur, dass er auf dem Balkon stand und dass ich die Hand ausstreckte nach ihm, aber ob ich ihn halten oder stoßen wollte, das weiß ich nicht mehr.
    Es ist auch nicht wichtig. Denn ich habe eine Entdeckung gemacht, Sascha, die alles verändert. Der Schmerz, der Hass, die Trauer meiner Alten – sie geben mir Macht über sie. Ich habe ihr Leben zerstört, und egal, ob sie mich schlagen oder missachten, nichts wird etwas daran ändern. Sie sind völlig wehrlos. So, wie sie die Welt erschaffen haben, in der ich leben muss, so habe ich ihre Welt neu erschaffen. Unsere Welt. Eine eiskalte Hölle für alle, die darin leben.
    Und jetzt sehe ich in deine bemitleidenswert ahnungslosen Augen, Sascha, und ich weiß nicht mehr, ob ich lachen oder weinen soll. Die Worte, nach denen ich suche, um dir von mir zu erzählen, und zwar so, dass du auch verstehst – es gibt sie nicht.
    Nur das, was ich getan habe, kann meine Geschichte erzählen. Und das, was ich tun werde. Und du, Sascha, du bist nun ein Teil davon.

43
    »MAREIKE?«
    Ihr Schweigen dauerte schon eine gefühlte Ewigkeit an und stand zwischen ihnen, beinahe wie etwas Körperliches. Ihre Haltung war wie versteinert, ihr Blick starr. So als sei sie völlig weggetreten. Sascha begann, unruhig zu werden. »Was ist denn mit dir?«
    Plötzlich regte sie sich wieder, in ihren toten Blick kam Leben. »Was?«
    »Du warst auf einmal …«
    Sie lächelte, aber dieses Lächeln war kalt und ohne Heiterkeit. »Mir geht es gut.«
    »Du wolltest mir was erzählen.«
    »Ja, aber … Es ist nicht so wichtig. Wichtig ist nur, dass du hier bist. Bei mir. Letzte Nacht dachte ich noch, ich überlebe den nächsten Tag nicht. Aber jetzt. Mit dir. Ist es sogar schön. Du hast mich gerettet, Sascha.«
    Ihr plötzlicher Sinnes-und Stimmungswandel irritierte Sascha. Hatte sie ihm wieder nur was vorgemacht? Hatte sie nie ernsthaft daran gedacht, sich was anzutun? Alles nur, damit er hierher mitkam? Was plante sie diesmal? Sein Blick fiel unwillkürlich auf das Schloss an der Tür. Und je länger er hinsah, desto unwohler fühlte er sich.
Junge von Mädchen vergewaltigt
, dachte er plötzlich. Tolle Schlagzeile. Jan würde sich krumm lachen. War natürlich Quatsch. Was sollte sie ihm schon antun, so dünn und zerbrechlich, wie sie war?
    Trotzdem. Besser, er spielte das Spiel noch so lange mit, bis er aus dem Bauwagen draußen war. Dann aber würde er ihr mal so richtig die Meinung sagen. Wie wollte sie jemals von ihm ernst genommen werden, wenn sie ihn ständig nur verarschte?
    »Warum schaust du dauernd zur

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