Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Stirb leise, mein Engel

Stirb leise, mein Engel

Titel: Stirb leise, mein Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Götz
Vom Netzwerk:
und sie sich etwas antat, würde er sich das nie verzeihen.
    »Warte, Mareike«, sagte er, »was hältst du davon: Ich vergess die Schule, heute krieg ich eh nichts mit, wir fahren zu mir und reden.«
    »Lass stecken, ich brauch kein Mitleid.« Sie hob den Helm wieder an.
    »Nein!«, rief er. »Es ist nicht aus Mitleid. Echt nicht! Mir liegt was an dir. Und es wäre noch mehr, wenn du endlich mal ehrlich wärst.«
    Sie ließ den Helm wieder sinken, schien zu überlegen. »Okay«, sagte sie dann. »Aber nicht zu dir. Ich weiß einen besseren Ort.«
    »Von mir aus. Und wo?«
    »Lass dich überraschen.« Mareike klappte den Sitz ihres Rollers hoch und holte aus dem darunterliegenden kleinen Staufach einen zweiten Helm. Sascha kettete sein Fahrrad an eine Straßenlaterne, setzte den Helm auf und stieg zu ihr auf den Motorroller. Spätestens bis Mittag wollte er wieder zu Hause sein.

[zurück]
     
    GESCHAFFT! MEINE SHOW hat voll gezogen. Ich wusste, dass ich ihn über sein schlechtes Gewissen kriege. Ein Glück, dass ich so was nicht hab. Ha, ha! Jetzt gehörst du mir, Sascha. Und deine Ahnungslosigkeit ist noch rührender als dein Mitgefühl.
    Wie auf Schienen gleitet der Roller durch die Stadt. Fühlt sich an wie fliegen. Und da oben im grauen Himmel tut sich gerade eine Lücke auf. Vielleicht können wir da ja durchfliegen, nachher. Hab ich das gerade gedacht? Mein Gott, wie kindisch!
    Ist die Liebe so? Kindisch? Albern? War ich bei Joachim genauso? Oder ist es der nahe Tod, der mich so fröhlich macht? Ein kurzer glücklicher Moment, das wird doch wohl drin sein. Sascha und ich, ein Meer von flackernden Kerzen, ich erzähle ihm alles, alle meine Geheimnisse – und dann … trinken wir den Todestrunk und gehen hinüber … Todestrunk … gehen hinüber … Mein Gott, wie sentimental, wie kitschig …, wie albern …, wie schön!
    Und dann … Was bin ich froh, dass Joy gestern nicht getrunken hat. Was für eine vertane Chance wäre es gewesen, sie zu töten. Und was für ein Glück ist es, dass mir das noch rechtzeitig klar geworden ist. Im allerletzten Moment. Nein, sie soll leben. Denn was heißt schon leben, wenn einem das fehlt, was man am meisten will? Sie wird wie ein verwundetes Tier sein. Weil ich mit Sascha vereint bin, auf ewig. Weil ich ihn gekriegt hab. Und nicht sie. Das wird ihr Schmerz sein, solange sie lebt. Und ich wünsche ihr ein sehr, sehr langes Leben.

41
    JOYS KEHLE BRANNTE. Doch nicht der Durst ließ sie aus ihrem hauchdünnen Schlaf aufschrecken, sondern ein Geräusch. Ein feines Summen – vielleicht von einem Motor –, das im Moment des Erwachens erstarb. Gleich danach spürte sie sofort wieder dieses scheußlich schmeckende Ding in ihrem Mund. Ein Stück Stoff, zusammengedreht zu einem Knebel und festgehalten von einem rauen Lederriemen um ihren Kopf.
    Immerhin, sie lebte. Was keine Selbstverständlichkeit war. Eine Zeit lang hatte sie fest geglaubt, sie werde diesen Morgen nicht sehen. Es wäre logisch gewesen. Mareike konnte noch so oft behaupten, sie werde ihr nichts tun – wieso sollte sie ihr das abnehmen? Oder irgendwas sonst? Sie hatte vor, erst Sascha und dann sich selbst umzubringen. Das war so sicher wie eins und eins zwei war. Auf zwei folgte drei, und die Drei, das war sie. Joy. Oder vielmehr: ihr Tod. Auch wenn die Drei eigentlich vor der Eins kommen musste und also die Null war. Höhere Mathematik war das. Höhere Psychopathen-Mathematik. Die Null aber, das war das Nichts. Der Tod. –
    Solche Gedanken kamen einem, wenn man eine ganze Nacht lang gefesselt in einem finsteren Kellerloch lag, nicht wusste, was als Nächstes passierte, und den eigenen Körper nicht mehr spürte, es sei denn als etwas Schmerzendes. Obwohl die Frage gar nicht war,
was
passieren würde. Das war ja klar: Mareike würde sie töten. Die eigentliche Frage war: Wann? Und wenn Mareike sie gar nicht selbst tötete, sondern einfach hier liegen ließ? Nun, da der Durst unerträglich zu werden begann, mit diesem verdammten Knebel im Mund, der auch noch den letzten Tropfen Flüssigkeit wegsaugte, musste sie wieder an die Cola denken, mit der Mareike mitten in der Nacht aufgetaucht war. Vielleicht war sie ja doch nicht vergiftet gewesen.
    Wenn Mareike jetzt damit erscheinen würde, wäre die Wahrscheinlichkeit, dass sie den Mund aufmachen würde, deutlich größer. Gestern aber hatte sie sich den Luxus erlaubt, die Flasche mit dem Kinn wegzustoßen, bloß wegen des neunundneunzigprozentigen Restrisikos, dass

Weitere Kostenlose Bücher