Stirb
gezeigt, was Vertrauen bedeutet.
Und sie hatte ihm viel zu verdanken. Nachdem sie im Zuge des Zeugenschutzprogramms nach Rügen gebracht worden war, hatte sie eine Umschulung zur Hotelfachfrau absolviert und war anschließend in einer kleinen Pension in Binz tätig gewesen. Vor etwas weniger als einem Jahr hatte Frank ihr eine Stelle im »Burlacher Hof« angeboten, der seit Generationen im Besitz von Franks Familie war. Er hatte ihr ein Angebot gemacht, das sie nicht ausschlagen konnte, und Lara hatte sofort zugesagt.
Schnell stellte sich jedoch heraus, dass es mit der Pension zunehmend bergab ging. Die Gäste blieben aus, als ob ein Fluch auf dem Hof lastete. Lange vor Laras Zeit hatte Franks Bruder, dem die Schulden der Pension über den Kopf gewachsen waren, der Insel von einem Tag auf den anderen den Rücken gekehrt, ohne seither etwas von sich hören zu lassen.
Hätte Frank die Pension vor gut einem Jahr nicht übernommen, wäre der »Burlacher Hof« heute wohl kaum mehr als eine Ruine.
Trotz der erschwerten Bedingungen hatte Lara Frank mit der Zeit immer besser kennen- und schließlich auch lieben gelernt. Nach all den Jahren war er der erste Mann gewesen, mit dem sie seit Raffaels Tod intim gewesen war. Einige Monate später waren der Pensionswirt und die Frau ohne Vergangenheit ein Paar.
»Geht’s wieder?«, fragte Frank und reichte ihr ein Glas Wasser vom Nachttisch.
Abwesend nickte Lara. Sie nahm einen Schluck und stellte das Glas zurück.
»Wie viel Uhr ist es?«
»Halb drei.«
Wortlos stand Lara auf, um das Fenster zu öffnen. Die frische Luft, die in den Raum strömte, tat gut. Mit leerem Blick starrte sie in den weitläufigen Garten hinaus, den dichte Rosenhecken von einer schmalen Zufahrtsstraße trennten. Früher hatte Frank einen Gärtner beschäftigt; inzwischen kümmerte sich Lara um die Gartenpflege.
Die Pension lag etwas abseits und war das letzte Haus in Lohme, einem Fünfhundertseelenort am Nordzipfel Rügens.
Die Küste lag unweit des angrenzenden Waldes, und je nach Windrichtung konnte man nachts bei offenem Fenster das Rascheln der Wälder oder das Rauschen der Wellen hören.
In guten Nächten träumte Lara von ihrem alten Leben, das endete, als sie in das Taxi gestiegen war. In schlechten verfolgte sie das Massaker, das sechs Jahre zuvor stattgefunden hatte.
Immer wieder sah sie sich dann dieselben Treppen zu Raffaels Wohnung hinaufhetzen, während Magnus Kern im Wagen Verstärkung anforderte. Die Wohnungstür stand offen. Mit Bleifüßen betrat Lara den Flur, in dem Turnschuhe und Emmas Rollerblades herumlagen. Sie kam nur bis zur Garderobe und war plötzlich wie erstarrt. Die Schlafzimmertür war nur angelehnt, die Klinke blutverschmiert. Lara spürte, wie ihr Puls hämmerte, als sie vorsichtig die Tür aufstieß. Großer Gott! Sie taumelte ein, zwei Schritte zurück. Raffaels neue Freundin auf dem Bett. Die Arme und Beine weit von sich gestreckt. Den Mund aufgerissen wie zu einem stummen Schrei. An ihrem Hals klaffte eine gut zehn Zentimeter große Schnittwunde. Die langen blonden Haare, das weiße Spitzennachthemd, das helle Bettlaken, alles durchtränkt von Blut. Die Wand dahinter bis unter die Decke mit dunkelroten Spritzern besprenkelt. In der Spiegeltür des Kleiderschranks sah sie Raffael. Er lag reglos auf dem Fußboden neben dem Bett.
Nein!
Lara stolperte um das Bett herum und warf sich neben Raffael auf die Knie. Er lag auf dem Rücken, unter seinem Kopf breitete sich eine dunkle Lache auf dem Teppichboden aus. Lediglich das kurze Aufflackern seiner hervorgetretenen Augen verriet, dass er noch am Leben war. »Halte durch! Hörst du? Du darfst nicht sterben!« Ihre Tränen tropften auf sein Gesicht, während sie die Schnittwunde an seinem Hals verzweifelt mit den Fingern zusammendrückte, um die Blutung zu stoppen. Raffaels leicht geöffnetem Mund entwich ein kraftloses Stöhnen.
»Er … er ist … ist noch …«, presste er kaum hörbar heraus, ehe sich seine vor Schmerz gekrümmten Finger entspannten, sein Kopf zur Seite sank und jegliches Leben aus seinen Augen wich.
Mit bebender Unterlippe starrte Lara ihn an und spürte ein heftiges Stechen im Herzen, bevor sie abrupt von ihm abließ. Emma! Von Panik ergriffen stürmte sie wie eine Wahnsinnige zum Kinderzimmer. Ihre Blicke flogen durch den mit Pferdepostern dekorierten Raum, doch das Bett war leer. Suchend hastete Lara durch die Wohnung, während vom Treppenhaus her die Rufe heraufeilender Polizisten
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