Stirb
fragte sie sich wehmütig, wie viel Lara Simons wohl noch in Karoline Wöhler steckte. Dennoch war sie überzeugt, die richtige Entscheidung getroffen zu haben.
Ebenso wie sie überzeugt war, dass Emma irgendwann wieder sprechen würde, hier auf Rügen, wo sie sicher waren und er ihnen nie wieder weh tun konnte.
***
Donnerstagabend, 19. Mai …
»Lassen Sie nur, den Rest übernehme ich«, sagte Lara beim Betreten der Küche. »Sie verpassen noch Ihren Zug.« Doch Barbara Linz, eine zarte Erscheinung in den frühen Vierzigern und seit jeher die gute Seele der Pension, bedachte sie nur mit einem dünnen Lächeln. Die Haushälterin warf den Fisch in die Pfanne und bestand darauf, noch den Tisch zu decken, bevor sie ging.
»Wie ich Ihren Mann kenne, ist der bestimmt längst am Bahnhof«, schmunzelte Lara.
»Harald kommt nicht mit«, antwortete Linz, deren gute Laune sich schlagartig verflüchtigt hatte.
Das überraschte Lara.
»Hieß es bei dem Preisausschreiben nicht, das Wellness-Wochenende sei für zwei Personen?« Wütend den Kopf schüttelnd, stellte Linz die Teller auf den Tisch.
»Ist wieder typisch für meinen Mann – Wellness ist für den ein Schimpfwort. Schon wenn irgendwas nur gesund klingt, nimmt der Reißaus.«
»Das tut mir leid«, murmelte Lara.
»Ach, schon in Ordnung, ich werde auch ohne Harald meinen Spaß haben«, sagte Linz, während sie nun doch ihren Koffer nahm, den sie an der Tür abgestellt hatte, und sich auf den Weg zum Bahnhof machte.
»Noch jemand Nachschlag?«, fragte Lara wenig später in das bei Tisch entstandene Schweigen hinein.
»Ich! Ich!«, brüllte Hendrik Becker, der elfjährige Nachbarssohn, der während der lange geplanten Sahara-Tour seiner Eltern bei ihnen wohnte, und streckte Lara gierig seinen Teller entgegen. Sie tat ihm etwas auf und sah besorgt zu Emma.
»Du hast dein Essen ja kaum angerührt.«
Emma schaute kurz auf, ohne die Stöpsel ihres iPods aus den Ohren zu nehmen. Wie so oft war sie mit den Gedanken woanders. Sie zupfte abwesend an ihrem mintgrünen Seidenschal, der seit der schrecklichen Tat damals die lange, wulstige Narbe an ihrem Hals verdeckte, die Lara noch heute häufig in Erklärungsnot brachte und gegen die ihre eigene Narbe an der Schulter bloß wie ein Kratzer wirkte. Die unter dem Schalknoten baumelnde Silbermedaille hatte Emma seit dem Turnier am Vortag nicht abgenommen. Emma hatte sich bei dem erstmals stattfindenden Junioren-Rennen des traditionellen Ostsee-Meetings qualifiziert. Einem Pferderennen, das sich als Auftakt zu den im August stattfindenden Renntagen verstand und diesen als gesellschaftliches Spektakel in nichts nachstand.
Ganz Rügen schien sich am vergangenen Nachmittag auf der Rennbahn in Bad Doberan eingefunden zu haben. Die Tribünen hatten einem Meer aus bunten Hutkreationen geglichen, in denen sich die Damenwelt jenseits der Rennbahn ein schrilles Kopf-an-Kopf-Rennen lieferte. Lara hatte einen übergroßen hellblauen Hut getragen, den sie in einer Boutique in Binz eigens für das Derby erstanden hatte. Überall hatte es nach Zuckerwatte und Grillfleisch gerochen, und selbst Emmas Psychologe, Dr. Urs Lange, ein Hüne mit offenem Gesicht und warmen braunen Augen, hatte es sich nicht nehmen lassen, Emma vor dem Rennen mit einem herzlichen Händedruck Glück zu wünschen.
Es war ein spannendes Rennen gewesen. Lara und Frank waren jubelnd aufgesprungen, als Emma auf den letzten Metern vollkommen überraschend aufgeholt hatte und kurzzeitig in Führung gegangen war, bevor sie auf dem Rücken ihrer Stute Sturmblüte als Zweite die Zielgerade erreicht hatte. Lara war mächtig stolz auf ihr großes Mädchen, wenngleich ihr persönlicher Triumph in der Gewissheit bestand, dass es im Leben ihrer Tochter doch noch etwas gab, was dieser ein Strahlen ins Gesicht zaubern konnte.
Doch die kostbaren Momente des Glücks sollten schon unmittelbar nach der Siegerehrung getrübt werden. Auf dem Weg zum Parkplatz war ihnen eine spindeldürre Reporterin gefolgt, die ein Statement der zweiten Siegerin erhaschen wollte. Dicht hinter ihr ein glatzköpfiger Kameramann mit aufgedunsenem Gesicht. Da Emma nicht sprach, hatte sie wie immer nur verlegen gelächelt, an ihrem hellgrünen Seidenschal genestelt und hilfesuchend zu Lara geblickt. Während Frank die Reporterin höflich abzufertigen versucht hatte, hatte Wenka Blomberg, deren leuchtend rote Lippen spitz wie ihr Hut waren, weiterhin hartnäckig auf einem O-Ton von Emma beharrt. Ob sie
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