Stirb
Anhalter am Straßenrand registrierte.
Ein dunkelhaariger Mann mit Rucksack und zerrissenen Jeans. Er war klatschnass. Der holt sich ja den Tod hier draußen. Und obwohl ein alter Reflex in ihr dagegen sprach, fasste Lara sich ein Herz und stoppte den Wagen. Der Mann nahm auf dem Beifahrersitz Platz und lächelte sie leicht verzerrt an. Erst jetzt sah sie, dass sein Gesicht und seine Hände mit kleinen eitrigen Blasen übersät waren. Lara zwang sich, nicht hinzusehen, und fuhr los.
»Zum ersten Mal auf Rügen?«, fragte sie nach einer Weile und mehr, um die Beklemmung zwischen ihnen zu brechen. Der Anhalter sah wortlos auf das Lenkrad, das Lara so fest umklammert hielt, dass ihr jegliches Blut aus den Fingern gewichen war und ihre Knöchel weißlich hervortraten.
Schließlich schüttelte er nur den Kopf.
»Wo soll ich Sie rauslassen?«, erkundigte sich Lara nach einem erneuten Schweigen.
Ohne Lara direkt anzusehen, streckte der Mann ihr einen Zettel entgegen, auf dem die Adresse eines Fachhandels für Jagdbedarf handschriftlich notiert war.
Lara nickte und richtete ihren Blick wieder auf die Fahrbahn, als sie kurz darauf registrierte, wie die Hand des Anhalters in dessen Rucksack verschwand.
Was zum Teufel hat der vor?
Schlagartig spürte Lara, wie ihr Puls schneller wurde. Im nächsten Moment flackerten die Scheinwerfer eines entgegenkommenden Lieferwagens auf.
Es war Harald Linz, Vorstandsmitglied der Freiwilligen Feuerwehr Lohme und Ehemann von Barbara Linz. Der vollbärtige Mann mit dem krausen, kupferfarbenen Haar bestritt seinen Lebensunterhalt mit Führungen entlang der Kreidefelsen oder durch den Nationalpark am Königsstuhl. In letzter Zeit dürfte er den Touristengruppen jedoch mehr durch seine Schnapsfahne und seinen leicht torkelnden Gang in Erinnerung geblieben sein und nicht wegen seiner fundierten Kenntnisse der Geschichte der Insel.
Lara hatte noch nie viel von ihm gehalten, doch als er augenblicklich am Straßenrand der Gegenfahrbahn anhielt, war sie unendlich froh, ihn zu sehen.
»Alles in Ordnung?«, brüllte Linz durch das halboffene Fahrerfenster gegen den Regen an.
Lara kurbelte die Scheibe hinunter und beugte sich so weit vor, dass er den Anhalter wahrnehmen musste.
»Ja, wieso fragen Sie?«, rief sie zurück.
»Nur so, im Schlachthof vom Gruber steht schon der ganze Keller unter Wasser – dieser verdammte Sturm! Wenn was ist, rufen Sie mich an. Und sehen Sie ja zu, dass Sie in Ihrer Pension bei dem Sauwetter alle Türen und Fenster geschlossen halten!«
»Das mach ich!« Aus heiterem Himmel raste ein Milchlaster in schwindelerregendem Tempo, das bei diesem Unwetter an Selbstmord grenzte, zwischen ihnen vorbei und versperrte ihnen kurzzeitig die Sicht.
»Und machen Sie Ihre Wagentür zu!«, rief Linz noch, als der Transporter vorbeigerauscht war.
»Meine Tür?«
»Die Beifahrertür!«
Lara riss den Kopf zur Seite. Die Wagentür stand offen. Der Anhalter war plötzlich verschwunden. Verwirrt zog sie die Brauen zusammen und saß eine Sekunde lang unbeweglich da, bevor sie die Tür heranzog.
»Haben Sie gesehen, wohin er ist?«, wollte sie von Linz wissen.
»Von wem reden Sie?«, fragte er verdutzt.
»Von dem Anhalter natürlich, der saß doch eben noch neben mir!«
Linz kratzte sich am Kopf und musterte sie ungläubig.
»Tut mir leid, Frau Wöhler – aber da war niemand.«
Laras Lippen formten sich, um etwas zu sagen, doch ihre Stimme versagte. Was in Gottes Namen geht hier vor? Verwundert schüttelte sie den Kopf und verabschiedete sich von Harald Linz.
Mit schweißnassen Händen lenkte sie den Wagen zurück auf die Fahrbahn und fuhr mit einem mehr als unguten Gefühl im Bauch weiter Richtung Pension.
***
Spät am Abend desselben Tages …
Der Wind fuhr in den Ärmel ihres Anoraks, als Lara die Einkäufe aus dem Kofferraum des Saabs nahm und das Garagentor hinter sich schloss.
Das Unwetter war vorübergezogen, doch für die kommenden Tage war ein neuer, sehr viel heftigerer Sturm angekündigt worden. Für die Bewohner von Lohme, hoch im Norden Rügens, bedeutete dies im Zweifelsfall, tagelang vom Rest der Insel abgeschnitten zu sein, daher hatte Lara den Tag damit zugebracht, allerlei Besorgungen für das bevorstehende Wochenende zu erledigen. Anschließend hatte sie auf der Bürgerversammlung für den Bau der neuen Bundesstraße gestimmt, wie sie es Frank versprochen hatte. Sie hatte gehofft, noch vor Einbruch der Dunkelheit wieder zu Hause bei Arne und den
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