Stirb
Ende vierzig.«
»Na klasse«, schnaubte Kern und schlug mit einem lauten Klatschen die Hände zusammen.
Sylvia Hausmann räusperte sich und bedeutete ihrem Kollegen mit einem scharfen Blick, sich zu zügeln.
»Uns ist klar, wie Ihnen in der gegenwärtigen Situation zumute sein muss«, setzte sie an, »aber eins verspreche ich Ihnen: Wir werden Rügen nicht verlassen, bevor wir nicht überzeugt sind, dass Sie und Ihre Familie in Sicherheit sind.«
Lara sah den Polizisten abwechselnd in die Augen. Worte. Nichts als Worte. Für den Fall, dass sie ermutigend klingen sollten, hatten sie ihre Wirkung gründlich verfehlt. Denn leider befand sich der Trancheur in der für ihn überaus vorteilhaften Position eines Heckenschützen. Er konnte jederzeit aus dem Hinterhalt auftauchen und über Leben und Tod entscheiden.
»Er hat mir mein Leben schon einmal genommen. Und ich will nicht, dass es ihm ein zweites Mal gelingt, verstehen Sie?«
Wie auf Kommando nickten die Beamten.
»Ich schlage vor, dass ich mich zunächst einmal im Jagdladen dieser Frau Jakobi umsehe«, meinte die Kommissarin.
Magnus Kern kratzte sich am Kinn und schien von Hausmanns Vorgehensweise nicht sonderlich überzeugt zu sein, brachte jedoch keinen Einwand hervor.
»Dann statte ich dem Ehemann von Barbara Linz einen Besuch ab.«
Lara nahm eine Übersichtskarte der Insel aus dem Regal und breitete sie auf dem Esstisch aus.
»Die Navis streiken hier oben manchmal«, warnte sie und zeichnete die beiden Adressen ein.
Kern nickte und erhob sich als Erster, ohne seinen Kaffee auch nur angerührt zu haben.
»Ach, und wenn Ihnen noch etwas einfallen sollte …«
»… dann gebe ich Ihnen selbstverständlich Bescheid«, vollendete Lara den Satz. Die Worte waren ihr wie von selbst über die Lippen gekommen. Der gleiche Satz wie vor sechs Jahren. Die gleichen Gesichter. Die gleiche Angst.
Nicht lange nachdem die Polizisten die Pension verlassen hatten, steckte Torben das Fax ein.
»Tja, also ich habe auch noch was zu erledigen.« Er bedachte Lara mit einem Lächeln, das sie nicht verstand, und eilte hinaus.
Die Küchentür fiel zu. Lara blieb noch eine Weile sitzen und spürte eine unbestimmte Leere in sich. Von der einstigen Kämpferin war nicht mehr viel übrig geblieben, und genauso fühlte sie sich auch. Mutlos. Sie hasste sich für dieses Gefühl. Noch einmal ließ sie sich durch den Kopf gehen, was die Polizisten gesagt hatten. Doch es war zwecklos, die Gedanken in ihrem Kopf in eine sinnvolle Reihenfolge zu bringen. Alles in ihr sträubte sich gegen die Einsicht, nun nicht nur ihrer Vergangenheit, sondern möglicherweise auch ihrer Zukunft beraubt worden zu sein, was im Zweifelsfall die erneute Flucht in ein anderes Leben bedeutete.
Was hatte sie auch erwartet? Etwa, dass die Kommissare mit ihren Pistolen auf Rügen eintreffen würden und ihr Leben nach einem Abrakadabra und einem lauten Peng-Peng wieder in bester Ordnung sei?
Für einen Moment schloss Lara die Augen, um ihre Nerven zu beruhigen, als mit einem Mal ein vertrautes Gelächter laut wurde. Weit weg und doch ganz nah. Es war das Lachen ihrer Mutter.
Im Gegensatz zu Lara hatte sie es geliebt, in neue Rollen zu schlüpfen, um bloß niemals die zu sein, die sie tatsächlich war. Lara sah sie buchstäblich vor sich, wie sie vor dem Garderobenspiegel der heruntergekommenen Neuköllner Wohnung ihr elegantes, tief ausgeschnittenes Abendkleid zurechtzupfte. »Na, wie sehe ich aus?«, fragte sie und drehte sich an der Türschwelle zu Laras Kinderzimmer einmal um die eigene Achse. Lara blickte von ihren Schulaufgaben auf und lächelte steif, während sie die Spitze ihres Bleistifts so fest auf das Schulheft drückte, dass sie abbrach. Obwohl sie noch ein Kind war, hatte sie bereits begriffen, dass weder das neue Kleid noch die goldene Kette mit dem Herzanhänger, die den Hals ihrer Mutter schmückte, Geschenke ihres Vaters waren, der die Familie mit seiner mickrigen Frührente nur mit Ach und Krach über Wasser halten konnte.
»Leider wird deine Frau Mama auch keinen Tag jünger, und allmählich sieht man mir das Alter ganz schön an«, stellte diese mit einem prüfenden Blick fest und wartete darauf, dass Lara widersprach.
Doch sie widersprach nicht.
Hatte ihr niemals widersprochen, sondern sie stets als das gesehen, was sie war: eine Schauspielerin, die bis zu ihrem Tod die Rolle ihres Lebens hatte spielen wollen.
Und während die Gesichtszüge ihrer Mutter allmählich verblassten, war
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