Stoer die feinen Leute nicht
sind es, die unsere Parteien zusammenhalten. Sehen wir uns einmal die vier Grundfunktionen an, die ein soziales System bei Talcott Parsons erfüllen muß, wenn es Bestand haben will, und machen wir uns dann klar, welchen Beitrag Lankenau hier in Bramme zur Erfüllung dieser Grundfunktionen leistet. Nehmen wir zuerst…“
Katja schaltete ab; sie kannte Kuschkas Ansichten über adaptation, goal-attainment, integration und pattern-maintenance. Aber das war nicht der einzige Grund für ihre mangelnde Aufmerksamkeit. Schon als sich Lankenau an ihren Tisch gesetzt hatte, war ihr aufgefallen, daß sie beobachtet wurden.
Direkt vor der Toilettentür saß an einem winzigen Tisch ein einzelner Herr, der offenbar nichts weiter zu tun hatte, als zu ihnen herüberzustarren. Er sah gut aus, für Brammer Verhältnisse beinahe zu gut; er wirkte fast so auffallend wie ein Paradiesvogel in einer Spatzenschar. Ein Dressman-Typ; ein Mann, der für Whisky und farbige Unterwäsche Reklame macht – männlich und cool, scharf geschnitten die Züge, bronzebraun das Gesicht, weizenblond die Haare; der nach Pfeifentabak und dessen – in diesem Fall taubenblauer – Anzug nach Pierre Cardin riecht. Was ihn aber interessant machte, war eben das, was nicht ins Klischee paßte: Er wirkte fürchterlich nervös. Er war allein und scheu und fürchtete sich offenbar in dieser Umgebung; er trank schon den dritten Korn innerhalb von zehn Minuten, obwohl er das Zeug anscheinend nicht mochte. Er versuchte mit dem Ober ins Gespräch zu kommen, wurde aber abgewiesen… Sonderbar. So saß er wieder zusammengesunken vor seinem halbgefüllten Tulpenglas und starrte zu Katja hinüber.
Sie unterbrach Frau Haas und flüsterte: „Kennen Sie den Mann, der da hinten einsam und verlassen an der Toilettentür sitzt?“
„Warum?“
„Der guckt dauernd zu uns rüber…“
Kuschka drehte sich um. „Das ist doch Lemmermann – Helmut Lemmermann. Der vom Sex-Shop.“
„Was – Sie kennen den?“
„Ich bin vorhin vorbeigekommen. Seine Pornos sind Klasse.“
Lemmermann schien zu spüren, daß von ihm die Rede war. Er stand auf, nahm sein Glas und kam zu ihnen herüber. Katja dachte, in einem Lokal wie dem Wespennest tut man das eigentlich nicht – und merkte, daß ihr ganz einfach nicht wohl bei der Sache war. Aber da hatte Lemmermann ihren Tisch schon erreicht.
„Ich darf mich doch zu Ihnen setzen?“ fragte er mit heiserer, unsicherer Stimme.
„Aber gern“, sagte Kuschka. „Ich habe Sie eben schon vorgestellt – und Sie werden auch wissen, wer wir sind.“
„Ich kann’s mir denken: die Soziologen.“
„Erraten!“ Kuschka rückte ihm einen Stuhl zurecht und stellte sich und die beiden Damen vor.
Lemmermann setzte sich. „Das ist nett von Ihnen…“
Katja war verwirrt, und es rutschte ihr so raus: „Zu einem Mann wie Kolle sind wir natürlich kollegial.“
Lemmermann sah sie melancholisch an. „Wenn Sie wüßten…“ Dann schüttelte er den dreien sein Herz aus. „Ich bin nun hier in Bramme geboren worden und aufgewachsen – und jetzt wollen sie mich rausekeln. Genau wie Sie! Da sitzen wir im gleichen Boot. Dabei mache ich hier mit dem Sex-Shop gute Umsätze, und Ihre Studie ist bestimmt auch ihr Geld wert. Aber einigen Damen und Herren paßt das alles nicht, und die schrecken vor nichts zurück. Mir werfen sie die Scheiben ein und zünden die Auslagen an, und über Sie verbreitet man Gerüchte… Baader-Meinhof-Gruppe und so. Das ist alles ein und dasselbe – “ ein Schluck aus dem Glas – „und darum müssen wir zusammenhalten!“
Kuschka war es recht, daß sich Lemmermann zu ihnen gesetzt hatte; er witterte einen neuen Zechgenossen. Und auch Frau Haas hatte nichts gegen diese Bekanntschaft einzuwenden, konnte man doch von Lemmermann interessante Informationen über das Brammer Intimleben erwarten. Nur Katja störte sich an seiner Anwesenheit.
Scheußlich, wie er sie dauernd musterte! Sie wußte gar nicht mehr, wohin sie noch sehen sollte; jedesmal, wenn sie den Blick hob, trafen sich ihre Augen. Er beachtete jedes Wort, das sie sprach, jede Geste, jedes Lächeln; er schien sich für jeden Quadratzentimeter ihres Gesichts und ihrer Arme zu interessieren. Was will er von mir? Sind es erotische Motive? Sucht er Mädchen für Aktaufnahmen? Für Massage-Salons? Fürs eigene Bett? Will er in Bramme ein Bordell aufmachen?
Nach außen hin demonstrierte Lemmermann seine Freude darüber, daß er endlich Anschluß gefunden hatte.
Weitere Kostenlose Bücher