Stoer die feinen Leute nicht
sie ihn aus der Reserve locken? Hinten im Wagen saßen die beiden Kollegen, die von allem nichts wußten und auch nicht alles mitbekommen sollten.
Die Heiterkeit der letzten Stunden war verflogen; jeder döste vor sich hin und fühlte sich nur hin und wieder verpflichtet, etwas zu sagen. Nur sporadisch kam so etwas wie ein Gespräch zustande.
Kuschka erzählte von einem Gelage in einer Kaschemme in Kreuzberg, wo er innerhalb von zwei Stunden zwanzig Klare gekippt hatte, vom Bier mal abgesehen. Da konnten weder Lemmermann, der seine Enthaltsamkeit auf diesem Gebiet betonte (aha!), noch Katja mitreden, von Frau Haas ganz zu schweigen, die lediglich auf die systemverfestigende Rolle des Alkohols hinwies: „… Abbau aggressiv-revolutionärer Tendenzen bei den Lohnabhängigen…“
Katja berichtete von Alfons Mümmel, wie er Frau Meyerdierks’ Telefonschnur zerbissen und seine Spuren auf dem Kopfkissen des Abteilungsleiters hinterlassen hatte: „… er springt nämlich gern in die Betten – sozusagen ein kleiner Betthase.“ Das entlockte den anderen nur ein müdes Lächeln, und Katja war sich nicht sicher, ob ihre Bemerkung bei Lemmermann die gewünschten Assoziationen hervorgebracht hatte.
Lemmermann bemerkte nur, daß sein nächtliches Wachen im Laden keinen Erfolg gehabt hätte. „Der Täter hat sich wohl eine kleine Pause gegönnt.“
„Vielleicht hat er mal das eine oder andere ausprobiert, was er bei Ihnen geklaut hat“, sagte Katja.
„Mitgenommen hat er ja nichts.“
„Na, um so besser…“
Aber Lemmermann ließ sich durch nichts aus der Reserve locken. So wie sie sich aufführte, hätte ein richtiger Playboy schon längst eine Panne vorgetäuscht und vor dem nächsten Gasthof gehalten… Merkwürdig. Oder ganz einfach. Je nachdem.
Sie fuhren schon am Brammer Meer vorbei, das silbern und schnulzenschön im Mondschein lag. Ihr Vorschlag, jetzt zu baden, wurde einstimmig verworfen. Schade; da hätte sie womöglich sehen können, ob Lemmermann an den gleichen Stellen wie sie Leberflecken…
In zehn Minuten mußten sie in Bramme sein.
Kuschka wurde wieder munter und schwärmte von Stanley Kubricks Film 2001 – Odyssee im Weltraum , worauf Lemmermann sich als süchtigen Leser von Science-Fiction-Romanen zu erkennen gab.
Katja horchte auf. Sie hatte in der Pension einen Geschichtenband von Stanislaw Lern liegen. War das ein Köder, ihn in ihr Zimmer zu locken?
Es stellte sich heraus, daß ihr ein Umstand zugute kam, mit dem sie in Unkenntnis des Brammer Straßennetzes gar nicht gerechnet hatte: Lemmermann setzte erst Frau Haas und dann Kuschka ab.
War das Absicht? Hatte er angebissen?
Endlich saßen sie allein im Auto und sahen Kuschka noch im Alten Fährhaus verschwinden, bevor Lemmermann wieder anfuhr. Katja seufzte leise. Gott sei Dank! Sie reckte und rekelte sich und versuchte, eine vertrauliche Atmosphäre herbeizuzaubern. War es der Wein, war es die lange Zeit, die seit der letzten Umarmung vergangen war, war es Lemmermanns Ausstrahlung – sie hoffte plötzlich, er möchte nicht ihr Vater sein.
Aber er verhielt sich so, als sei er es. Fehlte nur, daß er „Kindchen“ zu ihr sagte oder sinnigerweise: Bitte nicht, Katja, Sie könnten doch meine Tochter sein… Zu denken schien er’s jedenfalls.
„Ich hätte noch Lust, in eine kleine Bar zu gehen“, sagte Katja.
Die Antwort war lakonisch: „Und ich möchte so schnell wie möglich ins Bett – tut mir leid.“
Dagegen war auch mit Schlagfertigkeit nicht viel auszurichten.
„Wir sind da“, sagte Lemmermann gleich darauf und hielt vor der Pension Meyerdierks. Es war kurz nach Mitternacht.
Katja nahm ihr Herz in beide Hände – jetzt oder nie! Wenn sie ihren Vater jemals identifizieren wollte, mußte sie heute nacht zupacken. „Ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken soll… Vielleicht kommen Sie noch auf ein Bier mit nach oben?“
Lemmermann war wenig erbaut von ihrem Vorschlag. „Es ist schon so spät…“
„Ich hab auch noch einen schönen Science-Fiction-Band für Sie!“ Sie kam sich vor, als würde sie um einen Freier kämpfen.
„Na schön“, sagte Lemmermann. „Aber nur für fünf Minuten.“
Katja atmete auf, verspürte aber zugleich ein heftiges Herzklopfen. Wie mochte das ausgehen?
Lemmermann fand einen freien Platz auf der großen Parkfläche neben dem Hotel Stadtwaage. Sie stiegen aus und gingen auf die Pension zu.
Katja stutzte. Stand da im Eingang zum Altersheim nicht… Nein, es war nicht Corzelius.
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