Stoerfall in Reaktor 1
einfach …« Er bricht mitten im Satz ab und hebt hilflos die Hände. »Nicht schon wieder, ich dachte, das hätten wir endgültig hinter uns.«
Lukas weiß, worauf sein Vater anspielt. Tatsächlich hat es Ärger gegeben, als er vor zwei Monaten sein Schulpraktikum im AKW gemacht hat. Er hat sich vor allem um den Platz beworben, weil er die idiotische Hoffnung hatte, irgendwas herausfinden zu können. Ohne dass er eigentlich wusste, was genau. Aber sie hatten gerade die Diagnose für Karlotta bekommen und Lukas hatte nicht gewusst, wohin mit seinem Unglück, seiner Wut, seiner Ohnmacht. Natürlich hatte es auch vorher schon Stimmen gegeben, die auf einen Zusammenhang zwischen dem AKW und der überdurchschnittlich hohen Anzahl von Kindern in Wendburg hinwiesen, die hier an Leukämie erkranken, aber da war es immer um andere Kinder gegangen – und plötzlich betraf es sie selbst.
Lukas hatte die vage Idee gehabt, dass er während seines Praktikums vielleicht irgendetwas erfahren, irgendwelche Hinweise finden oder an Informationen herankommen könnte, die nicht für die Öffentlichkeit bestimmt waren. Irgendwie so was. Aber das Ganze war ein gewaltiger Flop gewesen! Er war in der Presseabteilung gelandet und bekam irgendwelche Hilfsarbeiten zugewiesen: Post verteilen, kopieren, Zeitungsausschnitte sammeln. Und Kaffee kochen! Genauso gut hätte er sein Praktikum in einer Versicherung oder bei einer Behörde machen können, keine Chance, auch nur über die kleinste Information zu stolpern, die wirklich interessant gewesen wäre.
Einmal, gleich zu Beginn des Praktikums, hatte er ein kurzes Gespräch mit dem leitenden Ingenieur des AKW s, der ausgerechnet Hannahs Vater war. Der hatte allerdings so getan, als hätte er Lukas höchstens mal zufällig im Ort getroffen und ihn nicht bereits seit Monaten regelmäßig im Zimmer seiner Tochter verschwinden sehen. Das Gespräch war dann eigentlich auch schon wieder vorbei gewesen, bevor es überhaupt richtig angefangen hatte: »Physik ist also Ihr Lieblingsfach, nehme ich an? Kernphysik?«
»Nee, nicht wirklich. Ich wollte eigentlich nur mal sehen, wie das hier alles so läuft. Mein Vater ist ja auch hier, und da dachte ich … Na ja, also einfach mal gucken, ob das vielleicht was für mich sein könnte. Im Büro und so.« Darauf folgten nur hochgezogene Augenbrauen, dann ein Nicken, als hätte er ohnehin nichts anderes erwartet. Und dann die umgehende Weiterreichung an irgendeinen Assistenten. Lukas erinnert sich noch genau an die Kurzführung, die dieser Typ mit ihm gemacht hat. Ein Typ, den er unmöglich ernst nehmen konnte, ein Wichtigtuer mit Halbglatze und Hornbrille, der begeistert eine hohle Phrase nach der anderen vom Stapel gelassen und zwischendurch auch noch kleine Witzchen gemacht hat. Oder was er eben für witzig hielt: »Ich persönlich bin der Erste, der jedem, der unsere AKW s abschalten will, ein Fahrrad vor die Tür stellt, damit er für seinen Strom ordentlich strampeln kann!« Oder: »Wer keine besseren Argumente als Angst hat, der sollte lieber gleich wieder in die Höhle ziehen und Knochen abnagen. Aber dann nicht jammern, wenn er sich im Winter den Arsch abfrieren muss!« Und immer so weiter. Mit der ständigen Betonung auf das Wort »Sicherheit«. Alles war in den Augen dieses Typen sicher. Die Sicherheitsschleusen, die Sicherheitsmaßnahmen, die Sicherheitsbestimmungen. Weshalb es natürlich auch ausgemachter Schwachsinn sei, jetzt plötzlich ohne Notlage auf eine absolut sichere Technologie wie die Kernkraft verzichten zu wollen. Bis es Lukas endgültig gereicht und er völlig entnervt gesagt hat: »Das haben doch aber genau solche Leute wie Sie in Fukushima auch behauptet, wenn ich mich richtig erinnere.«
Und: Sendepause. Kein Wort mehr. Ende der Vorstellung. Aus. Vorbei. Und am Abend hat sein Vater ihn dann beiseite genommen und gesagt: »Hör mal, Lukas, ich weiß nicht, was da heute genau los war. Aber zumindest hat man mich darauf angesprochen, ob das Praktikum bei uns wirklich das Richtige für dich ist. Oder ob du nicht lieber noch mal überlegen solltest, was es für Alternativen für dich geben könnte.«
»Was? Nur weil ich gewagt habe, das ganze Geschwätz von wegen ›alles ist sicher‹ anzuzweifeln? Was soll das denn?«
»So sieht es nun mal aus. Das ist die Firmenphilosophie, aber das ist ja in jedem großen Konzern genauso.«
»Firmenphilosophie, ja? Du meinst, du darfst keine eigene Meinung haben. Das ist es doch, was das
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