Stoerfall in Reaktor 1
Anzeige gefunden. Und er hat einen Führerschein und kann jederzeit den Bus von seinem Vater kriegen. Nicht schlecht, oder? Weißt du noch, wie wir bei unserem ersten Gig den ganzen Kram mit Fahrrad-Anhängern transportiert haben?«
Lukas nickt.
»Ich freu mich wirklich, dass du gekommen bist«, sagt Hannah leise.
»Ich mich auch«, erwidert Lukas lahm.
Sie stehen sich so dicht gegenüber, dass er Hannahs Parfüm riechen kann. Sie benutzt immer noch die gleiche Marke wie früher.
Lukas tritt einen Schritt zurück.
»Hast du mitgekriegt, dass ich was nur für dich gesungen habe?«, fragt Hannah.
» Boney Maroney . Klar. Aber du hast den Text nicht mehr so ganz drauf, glaub ich. Da stimmte irgendwas nicht ganz.«
Er grinst ein bisschen verlegen. Hannah lächelt. So wie nur sie lächeln kann. Dass er nie weiß, ob es nun spöttisch gemeint ist oder nicht. Ganz deutlich kann Lukas die beiden Grübchen in ihren Mundwinkeln erkennen. Er guckt schnell woanders hin. Zum Himmel hinauf, der langsam dunkel wird. Nur über dem AKW hängt ein schwacher Lichtschein. Eine Amsel fliegt laut zwitschernd so dicht an ihnen vorüber, dass Lukas unwillkürlich zusammenzuckt.
Flackernd schaltet sich in dem Moment die automatische Straßenbeleuchtung ein. Zu Anfang fast orangefarben, dann immer heller und kräftiger, bis der Lieferwagen in ein gelblich-weißes Licht getaucht wird.
»Du hast noch eine CD von mir«, sagt Hannah dann.
»Hab ich auch ein paarmal gehört. Ist gut. Vielleicht ein bisschen kitschig manchmal, aber okay.«
»Wir wollen vielleicht einen Song davon covern. Little Bird wahrscheinlich.«
»Müsste gut kommen mit deiner Stimme.«
»Wäre schön, wenn du mir die CD irgendwann mal vorbeibringen könntest.«
»Mach ich«, verspricht Lukas. »Oder ich geb sie dir in der Schule. Also dann«, setzt er unvermittelt hinzu, »ich mach mich mal auf den Weg, du musst ja sowieso gleich wieder rein. Aber ich bin fertig. Ich brauch zur Abwechslung mal ein bisschen Schlaf.«
»Ist klar nach letzter Nacht«, sagt Hannah und blickt ihm geradewegs in die Augen, als wolle sie seine Reaktion sehen.
Lukas zögert einen Moment. Er hat keine Ahnung, was sie damit andeuten will. Es kann nicht sein, dass sie irgendwas weiß! Oder doch? Aber …
»Klar«, sagt er jetzt schnell und versucht, eine Unsicherheit zu überspielen. »Ist einfach so. Zu viel Stress im Moment. Irgendwann musst du auch mal wieder pennen.«
Hannah schüttelt den Kopf. »He«, sagt sie leise und kommt so nah an ihn heran, dass er spürt, wie sich die Härchen auf seinen Unterarmen aufrichten, »baut keinen Scheiß, Lukas! Du und die anderen. Das kann böse ausgehen. Ich bin nicht die Einzige, die eins und eins zusammenzählen kann.«
»Ich weiß echt nicht, was du meinst …«
»Doch, das weißt du. Du weißt es und ich weiß es. Und ich würde gerne mit dir darüber reden. Ich glaube, es wäre wichtig. Außerdem …« Sie zögert. Dann drückt sie Lukas einen Kuss auf die Wange. »Wir spielen jetzt noch zwei Sets. Dann müssen wir abbauen und die Anlage zurück zum Übungsraum bringen. Die anderen wollen danach bestimmt noch irgendwas machen, aber ich geh nach Hause. Kannst du um, warte … halb zwölf, das müsste klappen, kannst du dann rüberkommen? Du kennst dich ja aus. Meine Eltern sind übrigens nicht da, du brauchst also auch nicht extra leise zu sein. Halb zwölf, okay?«
Ohne eine Antwort abzuwarten, dreht sie sich um und geht über den Parkplatz zurück zum Eingang, wo sie prompt von ein paar Fans jubelnd begrüßt wird.
Sechs
Hannahs Zimmer sieht noch genauso aus, wie Lukas es in Erinnerung hat. Eigentlich mehr eine Höhle als ein Zimmer, oben unter dem Dach, mit einer Feuertreppe, die außen am Haus hinaufführt. Lukas weiß nicht mehr, wie oft er hier nachts heimlich hochgeschlichen ist, während Hannahs Eltern unten im Wohnzimmer ahnungslos vor dem Fernseher saßen. Oft! Verdammt oft sogar. Und fast jedes Mal hat er gedacht, wie cool das sein muss, Eltern zu haben, die einen völlig in Ruhe lassen! Die ihre Tochter machen lassen, was sie will, ohne sich aufzuregen, dass sie noch nicht mal einen Kleiderschrank hat, sondern ihre Klamotten in alten Koffern vom Flohmarkt aufbewahrt. Und die ihre Bücher irgendwo auf dem Fußboden stapelt, zwischen den Matratzen und Kissen, die überall herumliegen. Von den mit Plakaten und Graffitizeichnungen zugepflasterten Wänden mal ganz zu schweigen. Bei deren Anblick wären Lukas’ eigene Eltern
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