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Störgröße M

Störgröße M

Titel: Störgröße M Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernd Ulbrich
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Immerhin war der Grad der Morbidität so hoch, daß…« Er schürzte die Lippen. Sein Blick wich Cerpendeel nicht aus. »Es war keineswegs sicher, ob am Ende nicht ein verkrüppelter Idiot Cerpendeel existieren würde.«
Cerpendeels Augen verfingen sich in der rasenden Homogenität der Schachtwand. Der Glaskäfig des Lifts schützte sie mit Reflexen vor der graubraunen Unendlichkeit. Schnell wechselnd glommen in einem Feld die zurückgelegten Meter auf. Als festen Punkt sah Cerpendeel einzig sein Gesicht.
»Ihr Ehrgeiz war größer als Ihre Bedenken.«
Gleichmütig schüttelte Batoo den Kopf. »Es gibt Gründe, Motive, die den medizinischen Ethos – erweitern.«
»Motive, die mit einem Menschenleben spielen?«
»Ich wollte bleiben«, sagte Batoo.
»Bleiben?« Cerpendeel musterte unverhohlen das Gesicht des Arztes. »Wo? Hier, auf der Erde? Aber das war doch zum Zeitpunkt meines Unfalls längst entschieden.«
»Nun ja«, erwiderte Batoo, »offiziell. Inoffiziell wurde ich nach Ihrem Unfall zu einer Unterredung ins Welthaus gebeten. Der Chefkoordinator selbst wollte sich über die Chancen Ihrer Rettung informieren. Ich sagte ihm wahrheitsgemäß, daß Sie praktisch tot seien. So gut wie jedenfalls. Er drang in mich, alles zu tun. Er sagte mir, ein wie auch immer lebendiger Cerpendeel wäre wichtiger als ein toter. Irgendwann fiel das Wort Märtyrer. Als ich das Welthaus verließ, war mir klar, weshalb Sie leben mußten, unter allen Umständen leben sollten. Einem lebenden Leichnam konnte man jede Entscheidung aus der Hand nehmen. Einem Toten nicht. Pietät, Sie verstehen! Ich will nicht bezweifeln, daß man sich rein menschlich um Sie sorgte. Aber Sie hatten sich in politische Dinge gemischt und waren damit ein Gegenstand der Politik geworden. Ich ließ Sie sterben. Ganz offiziell. Ihr Gehirn und das, was von Ihnen geblieben war, konservierte ich nach einem von mir entwickelten Verfahren. Ich stahl Ihnen zwei Jahre Ihres Lebens oder besser, zwei Jahre der Welt. Für Sie selbst gab es keine Zeit mehr.« Er zog die Brauen in die Höhe, und die Stirn krauste sich im Spott. »Ich habe Sie benutzt, um meinen Willen durchzusetzen und Ihren und den einer halben Milliarde Menschen oder mehr.«
»Sie hätten mich tot sein lassen können«, beharrte Cerpendeel. Er war unerbittlich vernarrt in diesen Gedanken. »Tot!« Von der Magengegend her breitete sich ein Druck aus. »Ich glaube nicht daran, daß meine Existenz etwas verändert. Sie hätten mich tot sein lassen sollen.«
Der Lift bremste nun stärker und hielt mit einem leichten Ruck.
»Hören Sie auf, damit zu kokettieren«, sagte Batoo, und seine Stimme klang merkwürdig fröhlich. »Das Leben geht weiter. Ich dachte, es könnte einen Menschen wie Sie gebrauchen.«
»Einen Menschen wie mich? Was meinen Sie damit?« Er blickte unverwandt auf die sich öffnende Tür.
»Menschen, die Entscheidungen fällen, die den Mut aufbringen zu großen Entscheidungen.«
Der Schleusenraum war grau in grau, zweckmäßig und seines Zwecks bereits enthoben.
»Es gibt nichts mehr zu entscheiden«, sagte Cerpendeel. »Die Menschheit geht ihren Weg, ich den meinen. Ich bin Wissenschaftler, ich werde es wieder sein. Es war ein Zufall. Alles war ein Zufall.«
»Jedes Leben hat ein Gesetz«, sagte Batoo.
»Bin ich etwa das Gesetz Ihres Lebens? Ich bin ein Zufall darin, eine Episode.«
»Schade«, sagte der Arzt. »Ich hoffte, einen Freund zu gewinnen. Aber als Mediziner darf ich die Mühe nicht bedauern.«
»Für die Zeit meines Lebens sind die bedeutsamen Entscheidungen gefällt«, beharrte Cerpendeel. »Ich werde nun brav meine Theorie vollenden. Es gehört zur menschlichen Ordnung, den höheren Willen zu befolgen. Dies Prinzip hat keine Gesellschaft angetastet, und ich denke, man kann heute damit leben, ohne sich selbst aufzugeben.«
Sie durchschritten den Schleusenraum, und es war nur noch eine graue Wand, die sie von der Welt trennte. Das Öffnen des äußeren Schotts nahm Cerpendeels ganze Aufmerksamkeit gefangen. Er bemerkte Batoos Lächeln nicht. Erst in seiner Stimme erkannte er es.
»Glaub mir, Assar, wer einmal einen eigenen Willen gehabt hat, der kann nicht mehr davon weg. Du hast den Reiz des Spiels entdeckt, und du willst auch in Zukunft der Stärkere sein. Du willst es dir immer wieder beweisen. Die bedeutsamen Entscheidungen können ganz klein aussehen und doch die Welt verändern, entscheiden über Leben und Tod. Ich habe es erfahren.«
»Und du hattest jedesmal Angst?« fragte

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