Störgröße M
Cerpendeel.
»Jedesmal«, antwortete Batoo. »Und sie wird nicht kleiner.«
Vielleicht empfanden sie beide etwas Ähnliches, denn beide hatten sie die Welt noch nie in der Gestalt gesehen, in der sie jetzt vor ihnen lag. Eine Fahrt von tausend Metern versetzte sie gleichsam auf einen fremden Stern. Sein unermeßliches Rund ließ sie die Enge der Welt begreifen, der sie eben entstiegen waren.
Zwischen Berghängen hindurch fiel ihr Blick in eine blauschimmernde Ferne, welche das Meer nicht begrenzte. Salzgeruch wehte heran, der sich mit einem Sommerduft wie nach Wacholder mischte. Der Wind fuhr in ihre Kleider, und sie hüllten sich fester darin ein. Auf der Haut brannte die Sonne. Klar und hell vor Kühle aber war der Himmel.
Draußen standen Schaumkämme auf den Wellen. Doch das Rauschen kam von den jungen Wäldern, die, von Almgrün unterbrochen, die tiefer gelegenen Hänge bedeckten. Gipfel stiegen auf, verwittert und kahl seit ihrem Bestehen, seit ihrem ersten Tag ewig und von den Rissen des Alters zerfurcht.
Nicht Frösteln verursachte die Schauer in ihrem Innern, sondern die Faszination dieser Gegensätzlichkeit. Sie mein ten, den Schmerz ihrer bisherigen Armseligkeit körperlich zu verspüren.
»Grenzen darf man nicht sehen«, sagte Batoo leise. »Solche Grenzen machen krank. Die Krankheit heißt Gewohnheit. Sie braucht starke Mauern, kilometerdicke Felsen. Vielleicht, mein Lieber, wirst du in Zukunft eintausend Millionen Feinde haben, vielleicht ein paar mehr, vielleicht ein paar weniger.«
Den ganzen Tag kletterten sie in den Bergen. Diese Stunden mit den kargen Gedanken, aber den Eindrücken eines Lebensalters ersetzten ihnen Jahre der Freundschaft.
Abends saßen sie im Windschutz von Felsen. Ausgehungert fielen sie über ihren Proviant her. Später kontrollierte Palström mittels seines »Stillen Hippokrates«, eines handtellergroßen Gerätes, Cerpendeels Körperfunktionen. Während er zufrieden nickte, maß, wieder nickte, sagte sein Patient: »Es mag schönere Planeten geben, Schlaraffenländer, Paradiese. Aber ich habe das Gefühl, dieser erzeugt genau das Maß an Mut, das die Menschen brauchen. Nicht zuviel, daß sie versagen, nicht zuwenig, daß sie träge werden. Vielleicht ist er unsere wirkliche Heimat.«
Batoo sah auf. »Hoffst du noch immer, daß sie deinen Mut nicht mehr fordern werden?«
»Ich bin, nicht feige!« Cerpendeel ließ sich zurückfallen. »Vielleicht hast du recht. Ich habe begonnen, Vorgänge um mich herum zu erleben. Die Bilder verfolgen mich, auch wenn ich die Augen schließe. Der Schmetterling kann nicht mehr zurück in die Hülle des Wurms. Ist das tragisch?«
»Nein«, antwortete Palström. »Tragisch wird es erst, wenn du nicht fliegst.«
Als die Sonne sank, kehrte Batoo in die Klinik zurück. Sie winkten sich einmal zu. Cerpendeel beobachtete des Freundes Silhouette, die selbst auf die Entfernung nichts von ihrer Kompaktheit verlor. Auf dem breiten Schädel glänzte der Abendschein wider, und die Wulstigkeit seines Profils konturierten vielerlei Reflexe. Er hatte Batoo weihevoll kennengelernt, und nun erst erinnerte er sich seiner Fröhlichkeit. In keinem Fall hatte sich darin die Unumgänglichkeit einer Situation, ausgedrückt. Das war er selbst.
»Was für ein schlechter Arzt«, sagte Cerpendeel zu sich, »der einem das Leben schenkt, aber nicht den Mut dazu.« Er lächelte.
Er stieg hinunter in die Schatten des Tals. Mit der Dunkelheit erreichte er den Weg, der den Ausgang des Lifts mit dem Landeplatz verband.
Er ging langsam, denn es war noch Zeit. Mitunter ließ er den Blick schweifen. Aber mit zunehmender Dunkelheit endete er an der Mauer aus Licht, die den Pfad säumte. Nebelschwaden verbargen schließlich die letzte Kontur der Welt. In ihnen träumten Bilder aus der Zeit der Agonie. Die stillen Gesichter der Erde, wie ähnlich und doch so verschieden. Damals bedeckte ihr hippokratisches Antlitz, gleich zu dick aufgetragener Schminke, Müll. Heute liebkosten es Schleier aus Nebel. Von der tödlichen Last befreit, lächelte die Schlafende. Undines Züge. Der Gedanke, sie könnte sich in den sechs Jahren verändert haben, zur Fremdheit verändert, verfolgte ihn. In seinem Bewußtsein existierten lediglich ein paar Monate der Trennung, der Rest der Zeit war wie ein dunkles, schreckliches Loch.
Er versuchte, die Veränderung nachzuvollziehen, die in der Zeit ihres Zusammenseins stattgefunden haben mußte. Aber das ergab kein Maß für die Jahre, die ihm fehlten.
Im ersten
Weitere Kostenlose Bücher