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Störgröße M

Störgröße M

Titel: Störgröße M Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernd Ulbrich
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Sein Körper brauchte nur Sekunden, um sich an die ungewohnte Lage zu gewöhnen. Seine Glieder gehorchten ihm. Alle seine Empfindungen erschienen ihm normal. Das Essen schmeckte. Sie hörten leise Musik. Er erinnerte sich an alles im Zusammenhang und in logischer Reihenfolge. Batoo sagte, er habe das erwartet. Seine Gegenwart war ihm angenehm. Es störte ihn nicht, daß die Fragen, die so herzlich und persönlich klangen, berufliche Interessen verfolgten. Er antwortete bereitwillig, ja, er empfand sogar Freude darüber, antworten zu können.
Die offiziellen Tests und Untersuchungen zogen sich den ganzen Vormittag hin. Im Ergebnis bestätigten sie seine Völlige Genesung. Am Abend sollte Undine eintreffen. Er fürchtete, die Zeit bis dahin würde ihm unerträglich lang werden. Hier unten erwartete ihn nichts mehr. Es überfiel ihn die entsetzliche Angst, dort oben könnten seine Erwartungen enttäuscht werden. Was, wenn zwei Freunde seiner harrten? Die Erde. Undine.
Gemeinsam mit seinen Rettern nahm er das Mittagessen ein. Niemand sprach von seiner Rettung. Die Ärzte und Techniker berauschten sich am medizinischen Erfolg. Sie lobten die Zeit und ihre Mittel. Über die Erde sprachen sie nicht. Es schien Cerpendeel, als halte eine unsichtbare Scheu sie davor zurück. Die Größe und Bedeutung ihres Erfolgs war durchaus ungewöhnlich. Der seine kam ihm übermenschlich vor, beinahe transzendent, bewirkt durch nichts weiter als durch ein Wort. Wessen Erfolg war das tatsächlich?
Die Freude der Ärzte wurde durch nichts beeinträchtigt. Der Fall Cerpendeel war für sie abgeschlossen. Sie mußten nicht mit ihm leben. Nur ihre Erinnerung bewahrte ihn. Als Verdienst, zu dem es keine Alternative gegeben hatte.
An der Spitze der Weltkoordinative stand noch immer der Chefkoordinator. Es lebten noch immer dieselben eineinhalb Milliarden Menschen. Gleichviel, wie das Ergebnis ausgefallen war, Undine würde ihn lieben. Er hatte es nicht ihretwegen getan. Wenigstens darin war er sicher. Er hatte es wegen niemandem der eineinhalb Milliarden getan. Er hatte sich nicht einmal gesagt, es sei moralischer zu bleiben. Er wußte, daß Undine danach fragen würde. In den sechs oder sieben oder acht Stunden mußte er eine Antwort finden, nicht nur für sie. Er wollte nicht lügen. Was für eine großartige Lüge wäre das, eine unwiderlegbare, unanfechtbare Lüge. Götter lügen nicht. Das haben sie nicht nötig, denn man glaubt an sie.
Eineinhalb Milliarden Menschen hatten an ihn geglaubt, wie sie vorher an das Dogma vom Weg in den Kosmos geglaubt hatten. Der neue Weg war weniger licht. Man konnte nicht einfach das Ziel in Besitz nehmen. Aber war die Beschwerlichkeit moralischer? Er ahnte, daß sich darin seine eigene Entschuldigung versteckte. Entschuldigung wovor? Habe ich nicht das gleiche Recht wie der Koordinator? fragte er sich.
Wetterfest bekleidet, mit leichtem Gepäck versehen, boten Batoo und Cerpendeel für die Gewohnheit des Klinikterritoriums ein absonderliches Bild. Seit drei Jahren war die Erdoberfläche frei von Müll und giftigen Abfallstoffen. Doch solange die Gesamtheit der Biosphäre nicht vollkommen in ihrem Gleichgewicht wiederhergestellt war, galt es noch immer als Ausnahme, nach oben gehen zu dürfen. Cerpendeel waren Wunderdinge berichtet worden von Wachstumsbeschleunigern, Genkontrolleuren und Restgift verzehrenden Mikroben. Die Masse des Mülls war über Schwerkrafttunnel ins All befördert worden. Zwischen Venus und Erde zusammengeballt, kreiste er als elfter Planet um die Sonne.
Mit gegenwärtiger Hoffnung hausten die Menschen nach wie vor eng beieinander in ihren unterirdischen Städten. Fünfjährige Anstrengung hatte sie erschöpft. Ihre Träume von der Ferne waren anderen gewichen. »Das ist so«, sagte Batoo. »Traum ist Traum, er muß nur real genug sein.«
Während der Lift mit ihnen aufwärts raste, bemerkte Cerpendeel: »Was für ein einmaliger Augenblick, seinem eignen Werk zu begegnen.«
Batoo lachte. »Ich begegne ihm täglich, meinem Lebenswerk.«
»Was empfinden Sie dabei?«
»Das ist schwer wiederzugeben. Die Einmaligkeit läßt den Verdacht aufkommen, es könnte sich um einen Zufall handeln. Ein Zufall aber kann kein Lebenswerk bedeuten.«
Aus einem unerklärlichen Grund fühlte sich Cerpendeel provoziert. Er sagte: »Wäre es nicht sicherer gewesen, mich sterben zu lassen?«
Batoos Zähne schimmerten in dem dunklen Gesicht. »Medizinisch gesehen, hätte es dagegen kaum Bedenken geben können.

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