Stolen Mortality
hätte er eine Ahnung. Skeptisch aus dem Augenwinkel, und dann sah er schnell weg. Er war fast so groß wie sein Bruder, wirkte mit seinem zierlichen Körperbau allerdings viel zerbrechlicher. Nahezu unbeholfen. Sie hatte schon alle möglichen Vampire und Wächter gesehen und wusste, dass das äußere Erscheinungsbild täuschen konnte. Aber dass dieser Junge so stark sein sollte, so machtvoll, war kaum zu glauben.
Er sah unschuldig aus. Furchtbar unschuldig.
„Hallo Junias“, sagte sie, bemüht , sich nichts von ihrem Konflikt anmerken zu lassen. „Ich bin Laine.“
Er nickte ihr zu, schien sich nicht wohl in seiner Haut zu fühlen. „Hi.“
Sie wandte sich wieder Jamian zu und der Junge verschwand im Wohnzimmer. Jamian schien für einen Moment abwesend, dann musste er plötzlich lachen, schüttelte den Kopf und schenkte ihr schließlich wieder seine Aufmerksamkeit.
„Er mag dich nicht, aber er findet dich sehr hübsch“, flüsterte er ihr zu und grinste. Laine setzte zu einer Frage an, schloss den Mund jedoch wieder. Die Antwort konnte sie sich denken. Telepathen! Sie hatte von dieser Möglichkeit gehört. Jamian und Junias standen sich nah; sehr, sehr nah.
Konnte es noch schlimmer kommen?
Doch das war unwichtig. Entscheidend war die Frage nach einer Wahl. Es gab keine, wenn sie Jamian retten wollte.
„Nun, Jamian.“ Sie vergrub alle ambivalenten Gedanken im Inneren ihres Bewusstseins wie eine verwesende Leiche in einem tiefen Grab. „Dann verrate mir doch mal, warum du gedacht hast, ich käme nicht zurück. So wenig Vertrauen?“
Sie war ein Monster.
Für einen Moment wurde seine Miene unerwartet ernst. Nachdenklich fuhren seine Finger ihre Wangenknochen nach, ehe er sich in einer fahrigen Bewegung die Haare aus dem Gesicht wischte.
„Meine Sorge war nicht unbegründet“, sagte er. „Es gibt keinen Grund, das abzustreiten.“ Er war sich seiner Worte zu sicher, als dass er eine Frage hätte formulieren müssen. Aber warum versteckte er sich hinter Förmlichkeiten?
Er wusste zu viel. Er ahnte es nicht, aber auf eine Weise, die er selbst nicht begriff, durchschaute er sie. Sie fröstelte, schob unwillkürlich ihre Hände unter die kurzen Ärmel seines Hemdes. Er musste über diese kleine Angewohnheit schmunzeln.
„Ich bin aber hier“, erwiderte sie.
„Ja. Ja, jetzt bist du hier. Und ich will keine Minute damit vergeuden, darüber nachzudenken, dass du es nicht lange sein wirst.“ Kurzerhand fasste er sie an den Hüften, drehte sie in Richtung Treppe und schob sie vorwärts. Mit seinem Körper drängte er sich voran, seine Hände jedoch hielten ihre Taille fest, sodass sie keinen Schritt von ihm wegkam. Laine seufzte leise auf, als er auf der Hälfte der Treppe begann, mit den Lippen an ihrem Nacken zu knabbern, den der hohe Pferdeschwanz freigelegt hatte. Sie ließ den Kopf zur Seite fallen, eine Geste , die jedem Vampir schwerfiel , kam sie doch einer sehr eindeutigen Einladung gleich. Aber ihm vertraute sie. Sie durchschaute ihn nämlich auch.
„Ich will mit dir allein sein“, hauchte sie, als sie in seinem Schlafzimmer waren und seine Hände sich langsam einen Weg unter ihre Bluse bahnten. Er machte einen kleinen Ausfallschritt zur Seite, verpasste der Tür einen Tritt und sie schwang mit einem Knall zu.
„Bist du!“, stellte er dicht an ihrem Ohr lakonisch fest.
Laine imitierte ein frivoles Kichern, was sich abscheulich anfühlte. „Ganz allein. Ohne einen Teenager mit übersensiblem Gehör im Haus. Irgendwo, wo niemand uns findet, die ganze Nacht lang nicht.“ Ihre eigenen Worte verursachten ihr bittere Übelkeit. Das Wissen, wie die Nacht enden würde, flammte schmerzhaft in ihr auf. Jamian mochte eine Ahnung haben, aber er traute Laine mehr als seiner Intuition.
Erneut bezwang sie ihre Gedanken und trieb sie zurück. Noch nicht. Noch blieb Zeit.
Wie eine willenlose Puppe ließ sie sich von Jamian umdrehen, sodass er sie küssen konnte, was ihr heiße Schauder über die Haut jagte. Seine warmen Hände glitten über ihren Körper, strichen unter ihrer Bluse fahrig über ihren Rücken. Suchten sich einen Weg über ihren Bauch nach oben, um gleich darauf zu verharren und zunächst mit vorsichtigem Geschick irgendwo einen Knopf zu öffnen, ehe sie sich dann doch wieder in ihren Nacken legten, wo seine Finger in ihrem Haar spielten. Ganz so, als könnte er einfach nicht entscheiden, wo er sie zuerst berühren wollte.
Laine schloss die Augen und hielt sich an seinem Hemd
Weitere Kostenlose Bücher