Stollengefuester
richtete sich wieder auf. »Sie schlafen offenbar häufig auf dem Bauch. Sie werden früher, als Ihnen lieb sein kann, hässliche Falten zwischen Wangen und Nase haben. Ich meine damit diese vertikalen Falten.«
Sie griff nach dem Spiegel und hielt ihn Nore Brand vor das Gesicht.
Ein Monster mit erschrecktem Blick und weißem Papierhäubchen über dem Haar schaute ihr entgegen. Falsch, das war sie selbst!
»Am besten gewöhnen Sie sich gleich an eine neue Schlafhaltung. Dann haben Sie schon ein Problem weniger.«
Vertikal schlafen, um vertikalen Falten vorzubeugen also. Nichts leichter als das. Das konnte sie schon mal üben. Im Bus gab es auch nicht viele andere Möglichkeiten, als im Stehen zu schlafen.
Nore Brand schob den Vergrößerungsspiegel zurück.
»Und wie steht es mit den horizontalen Falten?«
»Die horizontalen Falten sind natürlich. Die bringen Sie später mit Hilfe von Botox oder einem Lifting spielend wieder weg.«
Spielend, sagte sie, aber mit drohendem Unterton.
Man wurde älter. Und es war ein Verbrechen, den Zerfall, der mit diesem Prozess einherging, seinen Mitmenschen zuzumuten.
»Aber ehrlich, es gibt doch keine Hautcrème der Welt, die …« Nore Brand suchte nach Worten, »… die Reifung der Haut aufschiebt.«
Isabelle hielt einen Augenblick inne und schaute skeptisch auf ihre Kundin.
»Na ja, ein bisschen dran glauben muss man natürlich schon.«
Sie dachte nach.
»Am effizientesten ist natürlich immer noch das Lifting.«
Wobei der persönliche Ausdruck ebenfalls gleich weggeliftet wird. Vielleicht war es sowieso das Beste, dass man dann gleich vergaß, wer man war und was einen zu einem solchen Blödsinn angestiftet hatte. Ja, am besten ließ man sich gleich vollständig und restlos wegliften.
Nore Brand schwieg grimmig.
»Ein sorgenfreies Leben, schöne Arbeit und liebe Menschen um sich herum. Das hält jung.«
Isabelle sagte das mit feierlichem Ernst.
»Trauer und Sorgen sind Feinde der Schönheit.«
In diesem Augenblick erinnerte sich Nore Brand an den Grund ihrer entwürdigenden Lage.
»Dann hat die Frau des Direktors vom Grandhotel Belvedere im Moment ihre Behandlung sicher besonders nötig.«
Diese Bemerkung schien Isabelle nicht im Geringsten zu erstaunen. Solche Themen gehörten hier zum Alltag.
»Oh, sie ist eine sehr gute Kundin. Traurig ist sie natürlich schon. Aber sie ist unglaublich stark. Sie hat ja noch ihr ganzes Leben vor sich. So hat sie es mir selbst gesagt. Für die Beerdigung hat sie sich natürlich besonders schön gemacht. Gestern erst war sie wieder da. Ihr Leben wird sich nicht verändern. Es ist doch schön, wenn man mit so viel Optimismus gesegnet ist, nicht wahr?«
Gesegnet?
Ja, warum auch nicht. So konnte man das auch sehen.
Nore Brand erinnerte sich zu gut an die erste Begegnung. Diese Frau konnte sie sich beim besten Willen nicht als trauernde Witwe vorstellen.
»Wird sie nun die Hoteldirektorin?«
Isabelle lächelte.
»So genau weiß ich das nicht. Aber sie wird dort bleiben. Ich hatte den Eindruck, dass sie wieder ein bisschen verliebt ist, so ganz im Vertrauen gesagt. Sie war das ja immer wieder mal. Aber im Grunde ihres Herzens war sie ihrem Mann doch treu.«
Nore Brand hätte nur zu gerne gewusst, in welchem Abgrund der Grund dieses Herzens lag.
»Verliebtheit ist das beste Mittel für eine frische Haut.«
Verliebtheit als Mittel, als Medizin. Sie würde das Jacques mal zu erklären versuchen.
»Der Platzwart ist total hin und weg von unserem Bus. Das sei doch mal etwas anderes!«, strahlte Nino ihr entgegen, als sie die Schiebetür öffnete und in den Bus kletterte.
»Aber was ist das für eine Hitze hier drin?«
»Fritz Künzis System.«
Er deutete auf das ratternde, orange Kästchen. »Nicht berühren. Es ist feuerheiß.«
Er schob seinen Laptop zur Seite.
»Und? Hast du von einer trauernden Witwe erfahren?«
Nore Brand zog die Mütze aus.
Nino Zoppa erschrak. »Was haben die mit dir gemacht? Du siehst so geschwollen aus!«
»Ich habe eine Gesichtsbehandlung erhalten, einen Vortrag über die Faltenbildung und Gratis-Tipps, was dagegen zu tun wäre. Ich werde mich frühzeitig pensionieren lassen, damit ich mich gebührlich um mein Aussehen kümmern kann. Ich kann es nicht zulassen, dass ich mich zu einer ästhetischen Zumutung für meine Umwelt entwickle. Das Leben ist schon grausam genug – für uns alle.«
»Und was gedenkst du wirklich zu tun?«
»Natürlich nichts.«
Nino atmete erleichtert
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