Stollengefuester
mich. Kurz, dieser Mann war also auf dem stillen Örtchen und bekam mit, wie Heinrich ganz überrascht auf diesen Besuch reagiert haben soll. ›Was führt Sie zu mir?‹, soll er gerufen haben, bevor die Türe zugegangen sei.«
Elvira Merian deutete auf ihre Ohren. »Sie wissen, Heinrich war auch schwerhörig, deshalb redete er immer so laut. Zum Glück, muss man fast sagen. Deshalb wissen wir, dass es ein Unbekannter war. Heinrich begrüßte jeden Kunden nur einmal in seinem Leben mit diesen Worten. Das war sozusagen seine ganz persönliche, erste Begrüßung. ›Was führt Sie zu mir‹«, wiederholte Elvira Merian lächelnd. »Ein zweites Mal bekam kein einziger Kunde diesen Satz zu hören. Ich weiß das. Ich bin die Einzige, die in all den Jahren in seiner unmittelbaren Nähe war.«
Elvira Merian schwieg und richtete ihre Augen auf Nore Brand, wie um zu überprüfen, wie ihre Worte aufgenommen wurden. Mit einem leisen Knurren lehnte sie sich dann im Sessel zurück. Sie schien zufrieden.
Für einen Moment glaubte Nore Brand, den Anwalt vor sich zu sehen. Sie waren Bruder und Schwester, sie hätten Zwillinge sein können.
»Es war ein Fremder. Der letzte Klient hat auf diese Worte geschworen: Was führt Sie zu mir. Dabei habe er sich nichts gedacht. Was hätte er sich auch denken sollen? Ein Anwalt, wie Heinrich einer war, hat immer wieder mal neue Kundschaft begrüßt. Der Kerl wusste das natürlich nicht, ganz im Gegensatz zu mir.«
Elvira Merian lehnte ihren Kopf zurück und schloss die Augen. »Das hätte nicht sein müssen, Frau Brand, das nicht.«
Plötzlich bewegte sie sich mit einem Ruck nach vorn, sie lag fast quer über dem Schreibtisch.
»Suchen Sie den Professor! Plodowski! Den Archäologen! Den alten Freund von Frau Ehrsam, Sie wissen ja. Sie hat ihn unterstützt, viele Jahre lang. Er weiß alles. Er weiß als Erster, was mit dem vielen Geld geschah, wofür man es eingesetzt hat. Der Hoteldirektor ist tot, jetzt mein Bruder. Wer kommt dann? Etwa Plodowski? Wenn er nicht selber …«, sie brach ab. »Ich weiß es nicht. Und ich weiß auch nicht, ob sonst noch jemand eingeweiht ist. Wobei …« Sie lachte. »Wir zwei, Sie und ich, Frau Brand. Aber von uns beiden weiß kein Mensch. Außer, Sie hätten es ausgeplaudert, was ich nicht hoffen will. Es ist ein gefährliches Geheimnis.«
Nore Brand verzog keine Miene.
»Dieser Plodowski, ich weiß nicht, ich habe ihn nur ein paar Mal am Telefon gehabt. Diese Stimme. Das war die Stimme eines Frauenhelden. Ich habe einen Sinn dafür. Dem hätte ich nie über den Weg getraut. Heinrich war da ganz anderer Meinung. Der Plodowski sei ein wunderbarer Archäologe mit einer großen Liebe für Kunst und Vaterland.«
Sie schürzte ihre Lippen. »Na, das sagt sich doch zu leicht, oder? Ich denke, der hatte es bloß auf ihr Geld abgesehen. Aber eben, Heinrich hat mir nie geglaubt. Ich hoffe, er hatte recht. Und wenn er recht hatte, dann ist dieser Mann in Gefahr, in großer Gefahr. Heinrich hat mir bei unserem letzten gemeinsamen Frühstück erzählt, dieser Plodowski sei in Amsterdam, wo er eine Ausstellung mache mit seinen Fossilien. Ich erinnere mich so gut daran, weil Heinrich sich so amüsiert hatte. Dieser Plodowski könne nicht aufhören. Seit Jahren sei er immer wieder mal daran, seine letzte Ausstellung zu machen.«
Sie lachte. »›Und du?‹ Hab ich ihm gesagt. ›Und du? Du stirbst noch mal während deiner Arbeit.‹« Sie zog ein Taschentuch hervor und schnäuzte sich heftig. »Und wissen Sie, was er darauf gesagt hat? ›Nicht übel, diese Vorstellung!‹« Elvira steckte das Taschentuch in den Ärmel zurück und faltete die Hände vor sich auf dem Tisch. »Ich habe ihm gesagt, er solle nicht so dummes Zeug daherreden. Aber zurück zum Professor. In Amsterdam gibt’s seit einigen Jahren ein Museum mit dem Namen Hermitage, sozusagen eine Dependance der Eremitage von St. Petersburg. Die beiden Museen arbeiten sehr eng zusammen. Also ist es naheliegend, dass man einen Petersburger Wissenschaftler eine Ausstellung machen lässt. Zumindest war Heinrich dieser Ansicht. Er hat sogar einen Augenblick mit dem Gedanken gespielt hinzugehen, um Plodowski zu treffen. Er hat ihn ja bloß über das Telefon und über den Briefverkehr gekannt. Er hätte doch Lust, diesem Kerl einmal im Leben zu begegnen und ein Gespräch zu führen, so von Mann zu Mann.« Sie schwieg. »Sehr schade, dass es nicht mehr dazu gekommen ist. Und ich, Frau Brand, ich habe nicht die
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