Stollengefuester
stöckelte ins Büro zurück.
Auch im Büro von Anwalt Merian hatte sich, genau wie im Wartezimmer, nicht das Geringste verändert. Nur dass jetzt Elvira Merian hinter dem Tisch Platz nahm, dort, wo vor einem Jahr ihr Bruder gesessen hatte.
Plötzlich schien sie sich an die Grundregeln der Höflichkeit zu erinnern und streckte Nore Brand zwischen den hohen Stapeln von Ordnern, Papieren und Dossiers die Hand entgegen.
»Willkommen, Frau Brand«, sagte sie etwas unbeholfen. Sie hatte noch wenig Übung mit den eleganteren Formen der Höflichkeit.
»Mein herzliches Beileid«, sagte Nore Brand.
»Keine Sentimentalitäten, bitte«, sagte Elvira. »Heinrich war ein nüchterner Mensch, genau wie ich. Jetzt übernehme ich hier das Ruder. Das war immer so abgemacht. Sie müssen wissen, wir haben praktisch gleichzeitig das Anwaltspatent erworben, obwohl ich ein Jahr jünger war als er. Er meinte, dass ich ihn sowieso überleben werde. Frauen seien zäher als Männer. Oh, das hat ihn immer aufgeregt! Und jetzt …« Ihre Stimme brach. »Aber ich bin sicher, er hätte mich überlebt. Ich habe gut zu ihm geschaut.«
»Ihr Bruder, Heinrich Merian …«, Nore Brand stockte.
»… wurde ermordet, sagen Sie das nur«, fuhr Elvira Merian weiter fort. »So und nicht anders. Schauderhaft. Mit Gift. Die Polizei hat mir alles ganz genau berichtet. Eine Taktlosigkeit. Der Mörder hat Heinrich eine Giftspritze gesetzt. Eine Überdosis von einem Gift, dessen Namen ich mir nicht merken will. Es war tödlich. Muss ich mehr wissen? Der Mörder hat ihm die Spritze in die Brust gerammt! Von Ihnen, Frau Brand, erhoffe ich mir, dass Sie diesen Kerl zur Strecke bringen.«
Nore Brand schluckte leer. Zur Strecke bringen?
Was für ein Wortschatz für eine Anwältin.
Elvira Merian trug die Haare anders als vor einem Jahr. Sie waren kurz geschnitten, mit einem lila Glanz. Die graue wollene Bluse war gediegen, aber unnötig hoch geknöpft. Bis ganz oben. Kein Seidentüchlein um den Hals. Keine Zeichen von zarter Weiblichkeit. Nein, Elvira Merian stellte die personifizierte Nüchternheit dar, durchaus nicht ohne Glanz.
Hatte sie sich sonst noch verändert? Nore Brand versuchte sich zu erinnern, wie diese Frau vor einem Jahr ausgesehen hatte. Erfolglos. Vielleicht waren die Haare schon damals kurz gewesen. So sehr sie sich auch anstrengte, kein einziges Bild tauchte in ihrem Gedächtnis auf. Nur an die Stimme erinnerte sie sich.
Elvira hatte die Augen auf Nore Brand gerichtet. Gefasst und ruhig.
»Heinrich ist nicht mehr, weil er etwas wusste. Es ist das Geheimnis um Klara Ehrsams Geld. Heinrich meinte immer, dass ich keine Ahnung davon hätte. Aber ich wusste immer alles! Alles, was wir schriftlich hatten, ging auch durch meine Hände. Ich wusste bloß nicht immer, was er mit wem besprach. So wie damals, als Sie kamen. Da hat er gezwitschert wie ein Kanarienvogel, der gute, alte Heinrich.«
Elvira Merian schaute Nore Brand unverwandt an.
»Und an diesem unglücklichen Tag letzte Woche war ich nicht da. Ich musste zum Zahnarzt. Vielleicht wäre es nicht anders herausgekommen. Schlimmer, vielleicht wäre auch ich jetzt hinüber.«
›Hinüber‹ hatte sie gesagt.
Wer so redete, brauchte kein altrosa Seidentüchlein um den Hals zu tragen.
Elvira Merian schaute Nore Brand prüfend an. Was sie dazu zu sagen hätte.
Nore Brand schwieg.
»Stellen Sie sich das vor!« Elvira Merian ließ ein rasselndes Lachen ertönen.
Eine heimliche Raucherin? Nein, nicht heimlich. Ihre Fingerspitzen ließen keine Zweifel.
»Aber wer weiß das schon? Doch ziemlich sicher hätte er mich nicht ausgelassen, wenn er die Gelegenheit gehabt hätte. Wenn es tatsächlich um das Geld von Klara geht, dann wäre auch ich nicht mehr.«
Elvira Merian verstummte und dachte nach. Vielleicht überlegte sie sich, wie das war, nicht mehr zu sein. Falsch geraten. Elvira legte beide Arme auf den Tisch und beugte sich vor.
»Die Besucher, die Heinrich an jenem Tag hatte, sind überprüft. Lauter alte Kundschaft. Mit einer Ausnahme. Einer ist dazwischen gekommen. Das muss jedoch ein unvorhergesehener Besuch gewesen sein.«
»Woher wissen Sie das?«
»Der Kunde, der ihn zuletzt gesehen hat, musste mal, entschuldigen Sie, er musste kurz hinaus. Austreten, sagte Heinrich immer. Militärjargon, nehme ich an. Auf die Toilette, heißt das. Die Toilette ist leider ringhörig, so wie alles hier im Haus. Aber ich kann meinen Gehörapparat leicht ausschalten. Also, kein Problem für
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