Stollengefuester
Besserung. Innerlich. Immerhin kannten sie sich seit vielen Jahren. Hatten gemeinsam für die Matura gebüffelt. Horaz, Catull, Cicero, die französische Revolution, die deutsche Einigung, physikalische Gesetze, Faust, beide Teile. Ein Graus. Kurz: Sie waren gemeinsam von den schwindelnden Höhen bis in die tiefsten Abgründe des abendländischen Wissens gestürzt. Von diesem Fall hatten sie sich, wie alle andern auch, nie mehr ganz erholt. Was konnte die Menschen mehr verbinden?
Ja, doch, da war noch etwas: Die gemeinsame hinterhältige Freude über das gehäkelte Kleid von Fräulein Bütikofer. Heute wusste sie zwar nicht mehr, was daran so lustig gewesen sein sollte. Tatsache war, dass sie sich in einer prägenden Lebensphase gemeinsam schlapp und hysterisch gelacht hatten. Über irgendetwas. Wie eben zum Beispiel über die gehäkelte Garderobe ihrer Geschichtslehrerin. Das war, aus heutiger Sicht betrachtet, völlig gaga, oder korrekter, völlig unverständlich und ausschließlich für pubertierende Mädchengehirne nachvollziehbar.
Nore Brand machte ein betroffenes Gesicht.
»Was willst du? Geht’s um Leben und Tod? Bei dir wohl eher um Tod, oder? Wie immer.«
»Ja, leider. Würdest du dir mal etwas kurz anschauen?«
»Worum geht’s?«
Die gemeinsame Vergangenheit half also doch. Würde es immer, dachte Nore Brand in einer sentimentalen Aufwallung.
Sie klaubte das Steinchen aus der Tasche. »Klimbim der edleren Sorte, vermutlich. Hier. Dachte zuerst, dieses edle Steinchen sei rot, aber es ist doch grün. Seltsam, ich war doch nie farbenblind, auch nicht vorübergehend.«
»Das würde mich aber nicht erstaunen, du mit deinem Stressprogramm.« Maria Volta nahm das Steinchen entgegen und hielt es ans Licht.
»Warte mal, ich schau kurz mit der Lupe. Bei gutem Licht. Du bleibst hier«, befahl sie, »damit niemand etwas klaut.«
»Ist ja keiner da«, sagte Nore Brand, aber Maria Volta war schon hinter einem dunkelbraunen Filzvorhang verschwunden. Nach einer Weile kam sie wieder zurück. Ihr Gesicht sah sehr verändert aus.
»Woher hast du das?«, fragte sie mit gepresster Stimme.
»Staatsgeheimnis«, antwortete Nore Brand.
Maria Volta kniff ihre Augen zusammen.
»Und was willst du damit?«
»Mit dem Staatsgeheimnis?«
»Nein, mit diesem Edelstein.«
Es war der Beginn eines Kreuzverhörs.
»Verkaufen, natürlich«, scherzte Nore Brand, »den Lohn etwas aufpolieren.«
»Woher hast du ihn?«, drängte Maria. »Warst du nicht letzthin in Russland?«
»Ja. Aber ist lange her. Das hat mit diesem Stein nichts zu tun.«
»Bist du sicher?«
Nore Brand stutzte. »Sag jetzt endlich, was ist das für ein verstaubter Klunker?«
Maria Volta zog tief Luft ein, ihre Augen funkelten gefährlich.
»Klunker? Bisher habe ich dich für einen gebildeten Menschen gehalten. Du hast ja keine Ahnung! Ich hoffe nur, dass kein Mensch weiß, dass du mit so etwas in deiner Tasche durch die Welt spazierst. Das ist ein unbezahlbares Sammlerstück«, zischte sie über den Ladentisch.
Nore Brand wurde ungeduldig.
»Rück jetzt endlich raus mit der Sprache!«
»Ich müsste mich sehr täuschen …« Sie hielt den Stein ans Licht. »Nein, ich bin meiner Sache sicher. Das ist ein Alexandrit. Mal grün, mal rot. Je nach Lichtverhältnissen.«
Nore Brand schaute verständnislos.
»Eine Varietät des Minerals Chrysoberyll. Plinius«, sagte Maria Volta mit einem unangenehmen Unterton, »du erinnerst dich hoffentlich an den römischen Geschichtsschreiber, er hat den Stein gekannt. Unsere Zeit weiß von ihm seit 1830. Als man ihn in den Smaragdgruben im Ural fand. Hochkarätig. Du siehst, die Römer waren uns schon immer um Jahrtausende …«
Nore Brand verzog das Gesicht. »Eine Varietät des Minerals Chrysb…«, unterbrach sie die Kunstverständige.
»Chry-so-be-ryll«, wiederholte Maria Volta wie eine pedantische Lehrerin, indem sie jede Silbe dehnte. »Aber Hauptsache, du bist eine gute Polizistin.«
»Und warum heißt die Varietät dieses Minerals Alexandrit?«
Maria Volta lächelte. »Ganz einfach. Er wurde nach dem russischen Thronerben Alexander benannt.«
»Warum soll das so einfach sein?«
»Weil ich das eben weiß!«
»Ja, ganz logisch, natürlich. Leuchtet mir auch unmittelbar ein. Sag mal, hast du ein Mineralienlexikon im Gehirn gespeichert?«
Maria Volta schaute verständnislos. »Ich muss mir eben ein paar Dinge merken für meinen Beruf. So wie du vermutlich auch.«
»Und so etwas hattest du schon mal in
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