Stollengefuester
schön. Wann wollen Sie denn geweckt werden?«
»Je nach Verspätung. Eine Viertelstunde vor Ankunft.«
Er lächelte diensteifrig. »Wird gemacht.«
Dann wünschte er ihr eine gute Nacht und ging weiter zum nächsten Abteil, von wo gleich darauf dieselben Fragen und Anweisungen zu hören waren. Mit der genau gleichen Freundlichkeit.
Nore Brand schob ihre Tasche zum Fenster hin.
Auf dem Bett lag ein Zugbegleiter mit den Angaben der Zwischenhalte: Freiburg im Breisgau, Karlsruhe, Koblenz, Bonn, Köln, Düsseldorf, Duisburg, Oberhausen, Emmerich, Arnheim, Utrecht, Amsterdam. In Karlsruhe fuhr der Zug um 00.18 ab und die Ankunftszeit in Koblenz war 04.46. Fast viereinhalb Stunden.
Irgendwo unterwegs würde der Zug gemütlich vor sich her bummeln. Oder stehen bleiben, damit die Passagiere in Ruhe schlafen konnten.
Nore Brand legte den Faltprospekt zurück auf das Tischchen. Sie setzte sich hin und wartete darauf, dass der Zug anfuhr. Mit einem kleinen Ruck und dann langsam und stetig beschleunigend. Das war der Augenblick, in dem sie sich zurücklehnen und sich entspannen konnte. Das liebte sie. Den leisen Schwindel im Kopf, das ferne Rattern im Ohr und gar nichts tun oder denken müssen.
Eine unverständliche Durchsage aus der Ferne und dann, um genau sieben nach zehn, setzte sich der Zug mit einem leisen Ruck in Bewegung.
Bevor Nore Brand die Tür ihres Abteils schloss, warf sie einen Blick hinaus.
Zwei ältere Damen schoben sich und ihr Gepäck durch den Korridor, blieben stecken, verloren das Gleichgewicht, kicherten, schoben sich und ihre Rollkoffer wieder an, auf der Suche nach ihrer Bleibe für die Nacht.
Nore Brand setzte sich auf das Bett und schaute hinaus.
Badischer Bahnhof.
Jetzt bin ich in Europa, dachte sie. Sie musste lachen.
Das Tor zum nördlichen Teil von Europa war ein menschenleerer kleiner Bahnhof.
Den Norden kannte sie nicht. Den musste man auch nicht unbedingt kennen, fand sie. Sie war ein Kind des Südens und das wollte sie bleiben. Sie wusste von dieser Sehnsucht erst seit dem Tod ihrer Mutter. Solange ihre Mutter gelebt hatte, wusste sie nichts davon. Eines Tages stellte sie bei sich eine Reihe von Veränderungen fest, denen sie keinen Namen geben konnte. Darunter diese Gewissheit, dass ihr Leben sich schlagartig verändert hatte, als ihre Mutter weg war.
Dieser unerwartete Schmerz, dass sie ihr nie mehr Fragen stellen konnte, Fragen, die nur die Mutter beantworten konnte. Nie mehr. Das war unvorstellbar. Aber sie musste sich damit abfinden.
Eines Tages stellte sie verwirrt fest, dass sie mit ihrer Mutter innere Gespräche führte. Sie hörte ihre Stimme, ihr Lachen. Aber was waren ihre Worte? Sie erfand Antworten, die ihre Mutter hätte geben können.
Hätte geben können. Nie hatte sie Gewissheit. Welche Antworten hätte sie wirklich gegeben, welche hätte sie verschwiegen. Wie oft hatte sie selbst die erste Antwort ausgelassen, geprüft und eine übernächste gewählt.
Nein, ihre Mutter hatte immer die erste Antwort gegeben und das war nicht immer gut gewesen.
Der Zug glitt in rasender Geschwindigkeit über die Schienen. Das Licht eines kleinen Bahnhofs blitzte auf wie ein Spuk in der Nacht.
Das Nachdenken über die Geschwindigkeit verursachte ein taumeliges Gefühl in ihrem Kopf. Nicht das leiseste Rattern war zu hören. Sie flogen dahin. Ohne den geringsten Widerstand, die moderne Technik hatte alle Fesseln gelöst.
Auf einen Schlag packte sie die Angst vor dieser Entfesselung.
Widerstand bot Halt, aber hier gab es keinen Widerstand, hier durfte es ihn nicht geben.
Wie dünn die Haut wurde bei diesen unmenschlichen Geschwindigkeiten.
Plötzlich begriff sie Ninos Angst vor dem Fliegen. Es war dieses absurde Gefühl des Ausgeliefertseins. Ihre Haut war dünner geworden. Vielleicht war sie immer dünn gewesen. Und sie war erst jetzt so weit, dies zu fühlen.
Jetzt ist’s aber gut, hör auf zu grübeln, schalt sie sich. Das bringt nichts. Konzentriere dich auf deinen Fall, Nore.
Sie lehnte sich zurück und schloss die Augen. Sie versuchte zu schlafen, doch vergeblich.
Sie suchte nach dem Stadtführer, den sie in letzter Minute in der Buchhandlung erstanden hatte, und begann zu blättern. Ihr Blick blieb an ein paar Worten hängen. Eine Stadt auf Pfählen, hieß es da. Wie Venedig. Sie las weiter.
Als der Zug in Freiburg im Breisgau anhielt, holte sie ihr Handy aus dem Koffer. Es war Zeit für den elektronischen Gutenachtkuss. Sie tippte ihn ein und schickte ihn
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