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Stollengefuester

Stollengefuester

Titel: Stollengefuester Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marijke Schnyder
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aber wir haben den Beruf gewählt und müssen deshalb immer wieder versuchen, die Füße auf den Boden zu bekommen.«
     
    Zu Hause dann holte der Alltag sie wieder ein, damals. Nicht nur! Der Frühling kam. Wie war es möglich, dass sie vergessen hatte, was Verliebtheit mit dem Menschen machte. Sie war für Monate außer sich. Der Abwesenheitsassistent ihres inneren Laptops meldete ›außer Haus‹. Abwesend. Nur präsent in einem Universum von beunruhigenden Gefühlen, die sie als Spielball benutzten. Sie ließ es zu. Von ihr aus sprach nichts dagegen. Nichts sprach gegen Jacques.
    Aber sie war auch im höchsten Grad unzurechnungsfähig.
    Liebe? Sie misstraute diesem Wort. Es kam daher wie ein etwas zu stark duftendes Frauenzimmer. Frauenzimmer? Ja, Frauenzimmer, das passte. Es zwitscherte und flötete unablässig. Es nervte. ›Liebe‹ war ein Wort ohne Reibung, ohne Bodenhaftung, ohne die geringste akustische Erschütterung. Vielleicht trug es etwas wie Sehnsucht hinter der Maskerade. Wenn man sich von diesem zwitschernden Auftritt nicht allzu sehr ablenken ließ, war die Sehnsucht zu spüren.
    ›Love‹ war schlimmer. Love hatte gar keine Eigenschaft. Man brauchte nur die Unterlippe zu bewegen und das Wort war weg, entwischt. Ein fades, farbloses Wort ohne Geruch.
    Und Amore?
    ›Amore‹ klang besitzergreifend. Das Wort schwappte über seine Ränder hinaus. Die Vokale machten sich lustvoll breit, sie breiteten ihre Arme aus und wussten nie, wann genug ist. ›Amour‹ roch nach leichtem, warmem, süßem Teig und nach genüsslichem Verzehren.
    Das französische ›Amour‹ verspottete das dramatische ›Amore‹, das früher oder später sehr schwer im Magen lag.
    »Also?«, sagte Jacques, »jetzt siehst du selber. ›Amour‹ hat die richtigen Vokale und klingt immer richtig. Es hat eine kulinarische Qualität. Hör mal!« Dann zelebrierte er das Wort und schmatzte dabei, als ob er eine Köstlichkeit verspeiste. Sie war fassungslos, wie er sich selbst fasziniert zuhörte bei seinen lexikalischen Exkursen, atemlos und bewundernd. Und er verteidigte sich sofort. »Es geht nicht um mich! Es ist die Sprache! Die Franzosen hätten nie eine andere Sprache für sich erfinden können. Die Silben unserer Sprache sind Delikatessen. Wir artikulieren sozusagen Delikatessen.« Dazu lachte er schelmisch.
    Er spielte den Franzosen, der selbstverliebt über Liebe sprach.
    Nino hielt Jacques für einen Schnurri-Siech 1 . Er mochte ihn nicht.
    Aber was war das für ein Frühling! Man hätte ihr den Ausweis entziehen können. Sie hätte auch das auf die leichte Schulter genommen. Bastian Bärfuss spottete und Nino Zoppa machte pausenlos Witzchen.
    Etwas in ihr hatte sich vorübergehend ziemlich verrückt. Es hatte sich angefühlt wie die reine Befreiung.
    An der Arbeit tat sie, was getan werden musste. Tat dies alles möglicherweise ganz ordentlich. Oder sogar gut. Es musste doch reichen, die Dinge gut zu machen, hatte sie sich während dieser kurzen Anflüge von Vernunft zugeredet.
    Nur in diesem Fall hier würde das nicht mehr genügen. Es war höchste Zeit, auch die letzte Antenne auszufahren.
    In Gedanken schrieb sie das Wort ›Ferien‹ in ihr Notizbuch und strich es durch. Mit einem dicken, schwarzen Strich.
    Zur Belohnung gab’s eine zweite Zigarette. Mit dem Rauch verhüllte sie ihr Spiegelbild.
     
    Bastian Bärfuss gab ihr Schützenhilfe. Er hatte versprochen zu schweigen.
    Sie hatte ihm Unrecht getan. Bastian Bärfuss war kein Feigling. Er tat die Dinge nur auf seine Weise; er war frei in seinem Kopf und das genügte ihm. Er war auch kein Held, weil es ihm schlicht nicht erstrebenswert schien. Vielleicht war es noch mal ganz anders, vielleicht existierten in seiner Welt weder Helden noch Feiglinge.
    Sie schob die Gedanken an Bastian Bärfuss beiseite. Was wusste man schon von anderen Menschen.
    Der Zug fuhr in einen Bahnhof ein.
    Sie drückte die Zigarette aus, ging zurück in ihr Abteil und schloss die Tür hinter sich ab.
    Sie zog sich aus und legte sich zwischen die Leintücher.
    Mit einem leisen Ruck setzte sich der Zug wieder in Bewegung. ›Offenburg‹ stand auf dem Schild, das am Waggonfenster vorbeiglitt. Sie warf einen Blick auf die Uhr. Noch eine halbe Stunde bis Mitternacht.
    Es war zu warm für einen tiefen Schlaf.
    Sie schob die Wolldecke ans Ende des Bettes. Später, wenn sie kurz erwachen würde, vom Schlaf gekühlt, würde sie die Füße darunter schieben.
    Sie horchte hinaus.
    Wie der Zug durch

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