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Stollengefuester

Stollengefuester

Titel: Stollengefuester Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marijke Schnyder
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an die einzige Nummer, die im Adressbuch gespeichert war.
    »Für deine Arbeit kannst du dich weigern«, hatte Jacques gemeint, »das ist deine Sache. Aber was uns beide angeht, so will ich dich erreichen können. Voilà.«
    Sie schaute hinaus. Sah zuerst nur ihr Spiegelbild. Wie sie dasaß, das Handy im Schoß. Das Gesicht ungesund bleich vom bläulichen Deckenlicht. Sie war nie bleich gewesen. Sie hatte den kräftigen Teint ihrer Mutter, aber das Fenster spiegelte ein Gespenst. Das konnte nur an diesem kalten Licht liegen.
    Nore Brand wandte sich von ihrem Spiegelbild ab. Sie war daran, den Teil einer Geschichte zu beleuchten, den sie lieber im Dunkeln gelassen hätte. Die Ereignisse hatten es so gerichtet, man hatte sie wieder geholt, um ihre Arbeit anständig abzuschließen. Dass ihre Ferientage dabei draufgingen, kümmerte niemanden. Es fühlte sich in der Tat wie eine Strafaufgabe an. Wie eine verdiente Strafaufgabe.
    Ihre Gedanken gingen zurück in den Katharinenpalast nach Zarskoje Selo bei St. Petersburg. Dort hatte sie versucht, sich an der Schönheit des nachgebauten Bernsteinzimmers zu berauschen. Wie die anderen Touristen, die, atemlos miteinander flüsternd, auf Details zeigten und kleine Schreie der Begeisterung ausstießen.
    Doch vergeblich.
    Diesem Kunstwerk ausgeliefert zu sein, ging über ihre Kräfte.
    Als Kind hatte sie einmal zu viel Marzipan gegessen. Vorher hatte sie Marzipan geliebt, dann war es vorbei gewesen damit.
    In diesem Bernsteinzimmer erinnerte sie sich an ihr Marzipan-Trauma, ihr wurde im Kopf übel vom überwältigenden Ausmaß dieser Schönheit. Sie zwang sich, die Pracht in kleinen Portionen zu betrachten. Wie sie es auch anstellte, es war immer alles zugleich da und stürzte mit seinem ganzen schweren Glanz auf sie ein. Es gab keine Möglichkeit, sich zu entziehen. Sie musste fliehen, um sich zu retten.
    Draußen, in der eisigen und nassen Kälte, kamen die Zweifel, die Ahnung, dass sie einen Fehler gemacht hatte. Sie war nicht drangeblieben, hatte sich aus der Geschichte zurückgezogen, hatte der toten Klara Ehrsam ihren Erfolg gegönnt. Hatte die ersten schüchternen Zweifel im Keim erstickt. Weil sie ihren Wünschen über den Lauf der Dinge nicht entsprachen.
    Aber jetzt: War es nicht ein irrwitziger Plan? Musste man nicht von Sinnen sein, wenn man sich solchen Ideen verschrieb?
    Es musste diese verstörende Schönheit sein, die den Menschen um Sinne und Verstand bringen konnte. Vielleicht war es wirklich so, dass der Verstand der roten Klara vor der Schönheit von Kunstgegenständen kapituliert hatte.
    Hatte sie auf diese Weise ihren Verstand und ihr gesundes Misstrauen verloren?
    Nore Brand begriff auf einmal, warum ihr das Bild des Trojanischen Pferdes im Traum begegnet war. Das Trojanische Pferd barg den Feind in sich.
    Zuerst lachte sie über sich und über ihre kleine Paranoia.
    Es gab diesen ganz alltäglichen Verfolgungswahn. Er würde verschwinden, so wie er gekommen war. Dieser Begleiter von nervenzerrender Arbeit. Man vergaß ihn in besseren Zeiten und fürchtete ihn kaum, wenn er sich meldete. Er würde sich wieder in Luft auflösen.
    Doch hier war es anders: Das Trojanische Pferd war nicht das Kostüm ihrer Paranoia gewesen. Es war ein Bild einer Wahrheit, die sie zu lange verdrängt hatte.
    War Klara Ehrsam einem Riesenschwindel aufgesessen?
    Hatte sie es in ihren letzten Tagen geahnt?
    Das wäre die Antwort auf die Frage, warum sie damals unbedingt noch zu Plodowski nach St. Petersburg gewollt hatte.
    Es war plausibel. Sie hatte ihn noch einmal besuchen wollen. Um einen Verdacht loszuwerden. Um nach dem Rechten zu schauen.
    Oder doch bloß, um einen alten Freund und ehemals Geliebten ein letztes Mal zu sehen?
     
    Nore Brand stand auf und ging ein paar kleine Schritte hin und her, wie ein unruhiges Tier im Käfig, um mit ihrer inneren Nervosität fertig zu werden. Sie suchte nach den Zigaretten. Sie öffnete die Tür, trat auf den Korridor hinaus, schloss sie hinter sich. Sie war allein. Der Zug fuhr rasend schnell und doch gleichmütig dahin. Sie sah nichts, nur ihr Spiegelbild.
    Der Rauch beruhigte sie.
    Das Geheimnis der roten Klara hätte sie nie und nimmer wahren dürfen. Es hätte sie aufschrecken sollen und antreiben, weiter nachzufragen.
    »Manchmal hörst du Flöhe husten, Nore«, hatte Bärfuss ihr mehrmals gesagt. »Pass auf. In jedem von uns lauert die Paranoia. Weil wir uns gefährlichen Situationen aussetzen müssen. Es geht ja gar nicht anders,

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