Stolz der Kriegerin
Fröhlichkeit verfing bei Rogon nicht. Dennoch folgte er dem Heiler, der jetzt kräftig ausschritt und dabei genau auf das am dichtesten aussehende Dornengestrüpp zuhielt. Dort angekommen, holte er einen kleinen, violetten Kristall aus seiner Heilertasche und hielt ihn hoch. Zu Rogons Verwunderung bewegten sich die Dornenzweige und gaben einen schmalen, aber gut begehbaren Pfad frei.
»Willst du eines der Ödlandgeschöpfe anschauen? Weiter vorne hat sich eins in den Dornen verhakt und ist dort krepiert«, erklärte Sung.
Rogon folgte dessen Fingerzeig und entdeckte ein etwa anderthalb Schritt langes Tier, das als vertrocknete Mumie zwischen den Zweigen hing. Auf den ersten Blick hielt er es für einen ganz normalen Fuchs mit blauem Fell. Dann aber zählte er sechs Beine und drei Schwänze und sah einen Kopf mit einem Gebiss voller langer, scharfer Zähne, der zu einem weitaus größeren Tier hätte gehören können.
»Verstehst du jetzt, weshalb ich solchen Biestern nicht begegnen will? Es trennt dir mit einem einzigen Biss den Oberschenkel ab. Tiefer in den Ödlanden hausen noch schlimmere Bestien. Deren Gebiet muss man auf jeden Fall meiden!«
»Ich glaube kaum, dass andere Menschen so verrückt sind wie wir und freiwillig hierherkommen«, antwortete Rogon mit einem gepressten Lachen, in das Sung mit falschem Unterton einfiel.
»Ich glaube, das hat auch seit Jahrzehnten niemand mehr gewagt. Früher haben Artefaktsammler die Ödlande auf der Suche nach Waffen aus den Götterkriegen durchstreift, die hier noch liegen sollen. Für ein echtes Eirun-Schwert, das sie als Beutestück an die Wand hängen können, zahlen vor allem die Könige und Fürsten der tawalischen Reiche stattliche Summen.«
»Das hättest du mir eher sagen sollen, dann hätte ich meine Augen offen gehalten. Unserer Reisekasse würde so ein Fund guttun«, beschwerte Rogon sich.
Sung winkte nur lachend ab. »Bald wirst du Tirahs Schwert sehen, gegen das alle Klingen des Westens Spielzeuge sind. Und nun komm endlich!«
Mit diesen Worten drehte der Heiler sich um und ging weiter. Rogon folgte ihm nachdenklich, denn er fragte sich, welche Überraschungen ihm hier wohl noch bevorstehen mochten.
☀ ☀ ☀
Rogon stand vor dem Tempel und konnte kaum glauben, was er sah. Die Wände des Gebäudes standen schief und waren teilweise eingebrochen. Auch das Dach sah aus, als würde es jeden Augenblick zusammenstürzen, und dort, wo der Eingang sein sollte, lagen die Überreste eines Torbogens und versperrten den Weg.
»Das hier soll Tirahs Ruhestätte sein?«, fragte Rogon entgeistert.
Sung nickte und vollzog gleichzeitig eine beschwichtigende Geste. »Es ist nicht so, wie deine Augen es dir zeigen!«
»Die Ruine ist also ein Illusionszauber«, schloss Rogon daraus.
»Nein, der Tempel wurde so angelegt. Sirrin hat dafür sorgen wollen, dass Tirahs Aufenthaltsort geheim bleibt. Sonst hätte es doch der eine oder andere versucht, ihn zu finden, und sei es nur, weil er Schätze oder magische Waffen hier vermutet.«
»Aber warum hat Sirrin Tirah hierhergebracht? Sie hätte sie doch genauso gut in ihrem Magierturm lassen können«, fragte der junge Mann weiter.
Dem Heiler gelang es zu lächeln. »Du weißt wenig von Magiern, nicht wahr? Diese experimentieren in ihren Türmen, und dabei werden oft starke Kräfte frei. Die wiederum könnten Tirahs Schlaf stören und sie wecken, bevor die Wunden, die sie in den Schlachten davongetragen hat, völlig verheilt sind. Dadurch würde sie Schaden nehmen und vielleicht nicht mehr in der Lage sein, ihre Aufgabe zu erfüllen.«
Sungs Gesicht verdüsterte sich, denn genau dieser Fall war vor vierhundert Jahren kurz nach dem Krieg um die Heilige Stadt eingetreten. Ein Feind, von dem Sirrin auch jetzt noch nicht wusste, wer er war, hatte ihren Turm mit gelber Kriegsmagie angegriffen und ihn beinahe zur Explosion gebracht. Dabei war Tirah aus ihrem Heilschlaf erwacht und hatte sich trotz ihrer schweren Verletzungen auf die Helfer des unheimlichen Gegners gestürzt. Zwar war es ihr gelungen, die Angreifer zu töten, doch sie wäre beinahe selbst zugrunde gegangen. Sirrin hatte sie am Leben erhalten können, es aber nicht mehr gewagt, sie in ihrem Magierturm zu behalten.
»Dieser Tempel hier ist der beste Ort, den du dir denken kannst«, erklärte Sung mit erzwungener Gelassenheit. »Er liegt so versteckt, dass sich kein Sterblicher in die Nähe wagt, und gegen fremde Magier schützen ihn starke Zauber. Hier konnte
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