Stolz und Verfuehrung
eine sehr enge Treppe mit dem Flur neben der Spülküche verbunden.
Nachdem er ihr die Zimmer gezeigt hatte, murmelte Edgar, dass er ihr Gepäck holen wolle, und ließ sie allein.
Allein. Em war selten allein. Und obwohl sie ihre Geschwister sehr liebte, genoss sie diese kostbaren Momente der Einsamkeit sehr. Sie eilte zum Wohnzimmerfenster und schaute hinaus.
Der Ausblick zeigte den Vorplatz des Gasthauses. Obwohl der Gemeindeanger auf der anderen Seite der Straße schon in violettes Abendlicht getaucht war, zeichneten sich die Konturen der Kirche oben am Hang scharf von dem immer noch sonnenerleuchteten Himmel im Westen ab.
Em öffnete den Fensterflügel und sog die kühle, frische Luft ein, die ins Zimmer wehte und würzig nach grünem Gras und Kräutern roch. Aus der Ferne drangen das Schnattern einer Ente und das tiefere, beinahe glockenähnliche Quaken eines Frosches durch die Abendluft an ihr Ohr.
Issy hatte bereits die Küche in Beschlag genommen. Im Haus ihres Onkels hatte meistens sie am Herd gestanden. Sie konnte besser kochen als Em und genoss die Herausforderung. Entgegen Ems Erwartungen hatte Issy berichtet, dass in den Vorratskammern des Gasthauses genug Grundnahrungsmittel eingelagert waren, um Mahlzeiten zuzubereiten. Im Moment hielt Issy sich in der Küche auf und kümmerte sich um das Abendessen.
Em schob ihre Hüfte auf das breite Fensterbrett und lehnte sich an den Rahmen des geöffneten Fensters. Trotzdem mussten die Vorräte aufgestockt werden, überlegte sie. Morgen würde sie sich darum kümmern, wo und wie das möglich war.
Edgar wohnte nicht im Gasthaus, sondern in einem Häuschen auf der Farm seines Bruders, die außerhalb des Dorfes lag. Er kam jeden Tag ins Gasthaus, und Em hatte ihn über seine Pflichten befragt. Abgesehen vom Ausschank kümmerte er sich auch um die anderen Belange der Bar. Em und er hatten rasch zu einer Einigung gefunden: Sie würde die Verantwortung für Vorratshaltung und Organisation übernehmen, kurz: für alles, was für die Verpflegung und Übernachtung im Gasthaus nötig war. Edgar hingegen würde über den Tresen wachen und die Bevorratung mit alkoholischen Getränken im Auge behalten, wenngleich sie die Bestellungen aufgeben und für die Anlieferung der Getränke sorgen würde.
Außerdem hatte sie darum gebeten, dass er sie John Ostler vorstellte, der in einer Kammer über den Ställen wohnte. Die Ställe waren sauber und ordentlich. Schon seit einiger Zeit waren dort keine Pferde mehr untergebracht. John Ostler lebte für Pferde. Er war ein schüchterner, schweigsamer Mann Ende zwanzig, wie sie schätzte, der sich mangels berittener Gäste in letzter Zeit um die Pferde auf Colyton Manor gekümmert hatte.
Von ihm hatte Em erfahren, dass es sich bei dem großen Anwesen weiter unten am Weg tatsächlich um Colyton Manor handelte, das von einer Familie namens Cynster bewohnt wurde - und dass es sich bei der Dame des Hauses um Jonas Tallents Zwillingsschwester handelte.
Em ließ den Blick durch die Dämmerung schweifen und führte sich ihr neues Aufgabengebiet vor Augen. Das Haus verfügte nur über einen einzigen Gastraum, der war jedoch sehr groß und erstreckte sich fast über das gesamte Erdgeschoss. Die Eingangstür lag mittig, der lange Tresen dehnte sich zur rechten Seite aus und ließ links genug Platz vor der Küchentür frei. Dahinter, in der linken Ecke des großen Raumes, führte der Treppenaufgang in die oberen Stockwerke, und an den beiden Schmalseiten der Gaststube befanden sich große, steinumrandete Kamine.
Die Gaststube konnte, wie sie schätzte, vierzig oder mehr Menschen fassen. Es gab verschiedene Tische, Bänke und Stühle einschließlich einiger bequemerer Sessel, die im Halbkreis rund um einen Kamin angeordnet waren. Es schien, als wäre der Bereich rechts des Eingangs mit den runden Tischen, hölzernen Stühlen und Bänken an der Wand hauptsächlich als Ausschank genutzt worden.
Im Bereich links der Tür standen gepolsterte Bänke, Stühle mit Kissen und mehrere Lehnstühle, die um niedrigere Tische gruppiert waren. Weiter hinten, zwischen Kamin und Küchentür, fanden sich rechteckige Tische mit Bänken - eindeutig der Speisebereich.
Am Staub auf den bequemeren Sitzgelegenheiten und den niedrigeren Tischen erkannte Em, dass der Bereich - sicher für Frauen und ältere Menschen gedacht - in den vergangenen Jahren nur selten genutzt worden war.
Das, so hoffte sie, würde sich ändern. Ein Gasthaus wie das Red Beils Inn musste
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