Stolz und Verfuehrung
Lebensjahres auf seinen Schultern. Obwohl er größer war als Em, inzwischen sogar größer als Issy, glich er Em mit seinem hellbraunen Haar und den hellbraunen Augen - die jedoch nicht so tiefgründig schimmerten wie Emilys nussbraune Augen. Sein Gesicht war ein männlich geprägtes Abbild der zarten Züge seiner Schwester.
Henry musste es nicht aussprechen. Em wusste auch ohne Worte, dass er sich Sorgen gemacht hatte, ob jemand im Gutshof ihre Situation vielleicht hatte ausnutzen wollen. »Es war durch und durch anständig.« Mit einem beruhigenden Lächeln legte sie ihr Retikül auf den Tisch, um den sie sich versammelt hatten. »Stellt euch vor, es hat sich herausgestellt, dass es sich bei diesem Mr Tallent, der sich derzeit um alles kümmert, nicht um den Vater handelt, sondern um den Sohn. Aber auch er, Mr Jonas Tallent, hat sich tadellos benommen. Wie ein Gentleman.« Em merkte, dass sie Henrys Befürchtungen nicht zerstreut hatte, im Gegenteil, und fügte hinzu: »Er ist nicht jung. Ich würde sagen, irgendwo in den Dreißigern.«
Knapp dreißig würde es wohl besser treffen, aber allein die Erwähnung der Zahl dreißig - für Henry mit seinen fünfzehn Jahren ein unvorstellbares Alter - reichte aus, um seine Sorgen zu zerstreuen.
Sobald Henry ihm persönlich gegenübersteht, hoffte Em zuversichtlich, wird er merken, dass der Mann weder für mich noch für Issy eine Bedrohung darstellt und dass zwischen Jonas Tallent und den Freunden unseres Onkels in der Tat ein himmelweiter Unterschied besteht.
Ungeachtet der Wirkung, die Jonas Tallent auf sie ausgeübt hatte - die auch nicht sein Verschulden, sondern das Ergebnis ihrer beispiellosen Empfindsamkeit war -, war sie überaus zuversichtlich, dass Jonas Tallent zu den Gentlemen gehörte, die sich an die Spielregeln der Gesellschaft hielten, ganz bestimmt sogar peinlich genau, wenn es um Damen ging. Irgendetwas hatte er an sich, was ihr trotz ihrer flatternden Nerven ein Gefühl größter Sicherheit verschafft hatte - als ob er sie vor jeglicher Bedrohung, jeglichem Unbill beschützen würde..
Er mochte nervenaufreibend sein; aber ihrer Einschätzung nach war er ein ehrenwerter Mann.
Em zog Tallents Schreiben aus ihrem Retikül und schwenkte es hin und her, um die Aufmerksamkeit ihrer Geschwister zu erregen. »Das hier muss ich dem Mann hinter dem Tresen überreichen. Er heißt Edgar Hills. Sonst ist nur noch der Stallknecht im Gasthaus angestellt, John Ostler ist sein Name. Und jetzt«, sie warf den Zwillingen einen durchdringenden Blick zu, »werdet ihr euch bitte anständig benehmen, während ich die Angelegenheit regle.«
Pflichtbewusst nahmen die Zwillinge auf der Bank neben Issy Platz, die aufmunternd lächelte. Henry saß ruhig da und beobachtete Em, wie sie mit ihrem Retikül zur Bar hinüberging.
Edgar Hills schaute auf, als sie sich näherte, und zeigte verhaltene Neugier. Er hatte die Jubelschreie der Zwillinge gehört, war aber nicht in der Lage gewesen, mehr zu verstehen; er nickte freundlich, als sie vor dem Tresen stehen blieb. »Miss.«
Em lächelte. »Ich bin Miss Beauregard.« Sie reichte Tallents Mitteilung über den Tresen. »Ich bin hergekommen, um die Führung des Gasthauses zu übernehmen.«
Sie war nicht überrascht, als Edgar die Neuigkeiten erleichtert und mit gedämpfter Freude aufnahm. Auf seine ruhige und schwermütige Art hieß er sie und ihre Geschwister im Haus willkommen, bevor er anbot, das Gepäck nach oben zu bringen.
Die nächsten Stunden verrannen in fröhlicher, gut gelaunter Geschäftigkeit, bis der Tag ein viel glücklicheres Ende fand, als Em es sich je hatte träumen lassen. Die Räume im Dachgeschoss des Hauses waren wie geschaffen für ihre Geschwister. Die Zwillinge, Issy und Henry teilten sich die Kammern gütlich auf; es schien, als wäre für jeden ein perfektes Eckchen vorhanden.
Zu ihrer Verwunderung fand Em sich selbst in einigen privaten Räumen untergebracht. Schüchtern führte Edgar sie zu einer schmalen Tür oben an der Treppe, die von einem Ende der Gaststube hinauf in den ersten Stock führte. Links vom oberen Treppenabsatz führte quer durch die ganze Etage ein breiter Flur, an dem zu beiden Seiten die Gästezimmer lagen. Edgar öffnete rechts von der Treppe eine am Kopfende des Flurs gelegene Tür und gab damit den Blick auf die Räume des Wirtes frei - ein großzügiges Wohnzimmer führte in ein gut geschnittenes Schlafzimmer, an das ein Ankleidezimmer mit Bad grenzte. Letzteres war durch
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