Stolz und Verfuehrung
in die Nischen an den Wänden, wischten den Staub von lang vergessenen Grabsteinen.
Em verlor den Überblick über die Anzahl der Gräber, die sie überprüft hatte. Ihre Aufregung hatte sich nach und nach verflüchtigt, war dem Gefühl gewichen, dass irgendetwas nicht stimmte - dass sie die falschen Schlüsse gezogen hatten. Dennoch machte sie weiter, schlüpfte zwischen den Gräbern hindurch, las ihre Inschriften.
Sie arbeiteten gründlich, systematisch - und völlig erfolglos.
Em verzog das Gesicht, als sie wieder in der Mitte der Gruft angekommen war. »Es ergibt keinen Sinn. Die Gräber der Colytons müssen sich hier befinden.« Sie schaute sich um, dann zu Jonas. »Wo sollten sie sonst sein?«
Seine Miene gab zu verstehen, dass er ebenso vor einem Rätsel stand wie sie. »Lass uns gehen und mit Joshua reden. Er dürfte wissen, wo die Colytons von Colyton begraben sind.«
Jonas brachte die Laterne an ihren Platz zurück und winkte sie an sich vorbei durch die Tür.
Em stapfte zögernd die Treppe hinauf. »Die Colytons waren die erste Familie im Dorf. Die Gründerfamilie. Es muss hier irgendwo sein.«
Ihre Stimme klang enttäuscht.
Jonas schloss die Tür zur Gruft ab und folgte ihr die Stufen hinauf. »Sie sind doch nicht auf dem Friedhof begraben, oder?«
»Nein.« Oben auf der Treppe ordnete sie ihre Röcke, schüttelte sie aus und glättete sie. »Das habe ich überprüft. Dort draußen gibt es keine Colyton-Gräber. Ich hatte angenommen, dass die meisten in der Gruft sein würden, aber ein paar auch auf dem Friedhof. Doch da waren keine.«
Em wartete, bis er den Schlüssel zur Gruft in die Sakristei zurückgebracht hatte, und schüttelte wieder den Kopf. Sie war völlig ratlos. »Irgendwo müssen sie doch begraben sein.«
»Filing muss es wissen.« Jonas kehrte zurück und ergriff ihre Hand. Sein Blick schweifte an ihr vorbei, und er hielt inne.
Em folgte seinem Blick in eine entlegene Ecke der Kirche. Im Licht der Vormittagssonne, die durch die Fenster fiel und ein Muster auf den Boden malte, stand Hadley. Er zeichnete die Statue eines Engels, die auf einem verschnörkelten Sockel stand. Der Mann hatte sich halb abgewandt und war so in seine Arbeit versunken, dass er sie nicht bemerkt hatte.
Und Em war so auf die Durchsuchung der Gruft fixiert gewesen, dass sie es nicht bemerkt hätte, wenn er bereits bei ihrer Ankunft in der Kirche an seinem Platz gewesen wäre.
In dem Gebäude hatten Jonas und sie sich in gedämpftem Tonfall unterhalten. Es mochte sein, dass ihre Stimmen Hadley erreicht hatten; allerdings waren sie eindeutig zu leise gewesen, um ihn in seiner Konzentration aufzustören.
Jonas zerrte an ihrer Hand, und als sie aufschaute, deutete er mit dem Kopf zur Tür. Em nickte. Lautlos verließen sie die Kirche und eilten ins Pfarrhaus.
17
»Es ist ein Rätsel. Eines, das ich immer noch lösen muss.« Filing schüttelte den Kopf. »Kaum hatte ich erfahren, dass es eine Familie namens Colyton gegeben hat und dass sie in der Tat die Gründer des Dorfes gewesen sind, war es mir unbegreiflich, warum keine Colyton-Gräber in der Gruft zu finden sind.«
Em ließ sich auf das Sofa sinken. Die Enttäuschung war ihr ins Gesicht geschrieben, aber sie biss die Zähne zusammen. »Irgendwo müssen diese Gräber sein.«
Henry hatte am Tisch gesessen und gelernt, als sie ins Haus gekommen waren. Aber kaum hatten Em und Jonas über Miss Hellebores Schlussfolgerungen und über ihre Suche in der Gruft berichtet, hatte er seine Bücher im Stich gelassen und sich neben Em auf das Sofa gezwängt. »Die Colytons haben doch jahrhundertelang hier gelebt, nicht wahr?«
Sie nickte. »Über viele Generationen.«
»Es liegt auf der Hand«, meinte Jonas, »die Überreste der Colytons müssen sich irgendwo befinden. Irgendwo im Dorf, also irgendwo in der Kirche. Und die Tatsache, dass wir überhaupt keine Colytons gefunden haben, gleich welchen Alters und Geschlechts, legt die Vermutung nahe, dass sie alle zusammen sind, wo auch immer.«
Filing nickte. »In der Tat. Unglücklicherweise habe ich diese Pfarrstelle erst nach dem Tod des vorherigen Amtsinhabers übernommen, sodass ich keine Gelegenheit hatte, Fragen zu stellen oder irgendwelchen Geheimnissen auf die Spur zu kommen.« Er drehte sich zu dem Alkoven, den er als Arbeitsplatz nutzte. »Ich zeige euch, was ich entdeckt habe. Vielleicht könnt ihr mehr daraus machen.«
Er ging zu dem Bücherschrank, ließ den Blick über die Werke schweifen und zog
Weitere Kostenlose Bücher