Stolz und Verfuehrung
zu dem Verbrecher in die Gruft gehen lassen würde.
Und doch musste sie es tun.
Und sie hatte keine Zeit, sich auf einen Streit einzulassen. Em fragte sich, woher jemand wissen sollte, zu welcher Zeit sie den Brief gelesen hatte, bis ihr auffiel, dass der Nachttisch der Zwillinge direkt vor dem Fenster der Schlafzimmer stand. Jeder, der sich auf dem Gemeindeanger gegenüber dem Gasthaus aufhielt, hätte sie sehen können, als sie dort stand und den Brief las.
Wer auch immer der Verbrecher war, er hatte seine Tat sorgfältig geplant.
Die Zeit war also begrenzt. Ihr blieb nicht mehr als eine Stunde, den Schatz an sich zu bringen und in die Gruft der Colytons zurückzubringen.
Sie drehte sich vom Nachttisch weg. Ihr Blick fiel auf das Bett. Die kostbare Nähe, das Glück der Stunden, die sie dort in Jonas’ Armen verbracht hatte, flammte kurz in ihrer Erinnerung auf.
Das war es, was sie riskieren würde, wenn sie sich allein daranmachte, ihre Schwestern zu retten. Em war nicht so dumm zu glauben, dass der Entführer sie bereitwillig gehen lassen würde; die Zwillinge mussten ihn kennen, und wahrscheinlich erkannte sie ihn auch, sobald sie ihn erblickte. Alles, was sie im Tausch gegen den Schatz zu bekommen hoffte, war ihre Schwestern zu sehen - und wenigstens eine Chance, sie - und sich selbst - zu retten.
Nur eine einzige Chance, und sie würde sie ergreifen. In diesem Moment hieß sie die waghalsige und mutige Colyton in ihr mit offenen Armen willkommen. Irgendwie würde sie die beiden Mädchen retten - oder bei dem Versuch sterben.
Dieser Gedanke und der Gedanke daran, wie Jonas sich dann fühlen würde, ließ sie einen Blick auf die Uhr auf der Kommode werfen. Zehn Minuten würde sie erübrigen können. Sie eilte nicht zur Tür, sondern zum Schreibtisch.
Em setzte sich auf den Stuhl, zog knisternd ein leeres Blatt Papier hervor, ergriff die Feder und schrieb hastig.
Sie schrieb alles auf. Was geschehen war, was sie jetzt tat, wohin sie gehen würde - das kostete sie nur ein paar Zeilen -und was sie fühlte und empfand.
Ihr blieb keine Zeit, über ihre Worte nachzudenken, noch nicht mal, sie verständlich und stimmig klingen zu lassen. Sie ließ sie einfach aus sich herausströmen, aus ihrem Herzen, durch die Feder auf das Blatt.
Aber durch die Niederschrift - dadurch, dass sie all ihre Träume und Gefühle in so knappe Worte fasste - wurde ihr nur noch bewusster, was sie riskierte; griff die Eiseskälte nur noch mehr nach ihrem Herzen.
Em wünschte sich mehr als alles andere das Leben, eine Zukunft und eine Familie, wie Jonas es verkörperte. Sie wollte sich nicht in Gefahr begeben, wollte nicht all das riskieren, was ihr gehören sollte, was sie mit ihm haben würde - als seine Ehefrau und die Mutter seiner Kinder.
Aber ihr blieb keine Wahl. Denn ihre Halbschwestern hatten niemand außer ihr, auf den sie sich verlassen konnten. Em durfte sie nicht im Stich lassen.
Sie schloss ihre Nachricht mit einem schlichten Eingeständnis: Ich liebe Dich - ich werde Dich immer lieben.
Der Kloß in ihrem Hals war so dick, dass sie kaum atmen konnte, als sie die Botschaft unterschrieb und die Feder ablegte. Sie ließ die Nachricht dort liegen, wo sie war, erhob sich und eilte zur Tür.
Em konnte erst wieder frei atmen, als sie den Wald erreicht hatte und zum Gasthaus zurückrannte.
Wer auch immer der Verbrecher war, er hatte seine Tat sorgfältig geplant.
Der Gedanke echote ihr durch den Kopf, als sie den schweren Schlüssel in das Schloss der Zellentür steckte, ihn umdrehte und die Tür aufstieß.
Die zeitliche Planung des Verbrechers war überaus bemerkenswert. Denn um diese Uhrzeit nutzten die Angestellten im Gasthaus die Flaute zwischen Mittagessen und Nachmittagsbetrieb, um sich auszuruhen. Außer Edgar am Tresen, dem man leicht aus dem Weg gehen konnte, begegnete ihr niemand, den sie über ihre Absichten täuschen musste.
Wer auch immer der Verbrecher war, er musste das Gasthaus sehr gut kennen.
Mit dem Segeltuchbeutel in der Hand betrachtete Em den Steinkasten ihrer Vorfahren und dankte dem Schutzengel, der über sie wachte. Der schwere Deckel lag zwar wieder auf der Truhe, schloss aber nicht vollständig ab, sodass sie ihn mit dem Brecheisen, das die Männer zurückgelassen hatten, aufstemmen konnte.
Em griff in die Truhe und raffte die Juwelen und Münzen rasch an sich, eine Handvoll nach der anderen.
Dann wurde sie langsamer. Woher wusste der Verbrecher, wie viel sich in der Truhe befand?
Sie
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