Stolz und Verfuehrung
pünktlich um halb drei erschienen waren, war sie weder überrascht noch beunruhigt gewesen. Aber als sie um Viertel vor drei immer noch nicht aufgetaucht waren, hatte sie die Kontobücher geschlossen und sich auf die Suche gemacht.
Nach den Erfahrungen mit Harold war Em überzeugt, dass die Mädchen sich irgendwo in der Nähe herumtreiben mussten; sie hatte erwartet, sie bei den Waschmädchen zu finden oder bei John Ostler. Aber weder in den Ställen noch in der Wäschekammer wusste man, wo sie steckten. Niemand hatte sie seit dem Mittagessen gesehen.
Irritiert schaute Em in ihren Zimmern nach. Aber draußen herrschte schönes Wetter, und es war unwahrscheinlich, dass die Zwillinge sich das entgehen ließen. Es konnte allerdings auch sein, dass sich eines der Mädchen nicht wohlfühlte.
Em hatte das Zimmer am Ende des Korridors erreicht und öffnete die Tür. Sie sah zwei leere Betten sowie einen Brief, der auffällig auf dem Nachttisch zwischen den Betten platziert worden war. Stirnrunzelnd fragte sie sich, was Bea und Gertie nun wohl wieder im Schilde führten, durchquerte das Zimmer und ergriff den Brief. Ein ahnungsvoller Schauder rann ihr über den Rücken, als sie bemerkte, dass der Brief in dicken Großbuchstaben an sie adressiert war und nicht die krakelige Kinderschrift ihrer Schwestern aufwies.
Sie fröstelte. Ein paar Sekunden lang starrte sie auf den Brief, bevor sie ihn entfaltete. Und las:
WENN SIE IHRE SCHWESTERN WIEDERSEHEN WOLLEN, PACKEN SIE DEN SCHATZ IN DEN SEGELTUCHBEUTEL UNTEN UND BRINGEN SIE IHN DORTHIN ZURÜCK, WO SIE IHN GEFUNDEN HABEN. DORT WARTEN WEITERE ANWEISUNGEN AUF SIE. HANDELN SIE SOFORT - SIE HABEN NUR EINE STUNDE. ERZÄHLEN SIE NIEMANDEM DAVON. ICH BEOBACHTE SIE. WENN SIE NICHT ALLEIN KOMMEN, WERDEN SIE IHRE SCHWESTERN NICHT LEBEND WIEDERSEHEN.
Als sie den Brief zu Ende gelesen hatte, senkte Em den Blick -und entdeckte am Fuß des Nachttisches einen Beutel aus Segeltuch.
Kaum war sie wieder in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen, befand sie sich auch schon auf dem Weg durch den Wald in Richtung Gutshof.
Harold. Er musste dahinterstecken. Wer sonst?
Em blieb stehen, zog den Brief aus ihrer Tasche und betrachtete wieder die Schrift. Aber die Großbuchstaben vereitelten ihre Absicht; sie konnte nicht mit Bestimmtheit sagen, ob er sie geschrieben hatte oder nicht. Sie stopfte den Brief wieder in die Tasche, raffte die Röcke zusammen und rannte weiter.
Der Gutshof tauchte vor ihr auf. Sie blieb am Waldrand stehen, überflog den Küchengarten mit dem Blick und schickte ein Dankgebet zum Himmel, dass sich dort niemand aufhielt. Dann ließ sie den Blick auf das Waschhaus nebenan schweifen, sie hörte die Wäscherinnen an den Trögen. Doch sie hatten der Tür den Rücken zugewandt. Em atmete tief durch und ging leise auf die Tür zu.
Niemand hielt sie auf. Erleichtert atmete sie aus und öffnete. Gladys hatte erwähnt, dass die Tür tagsüber niemals verschlossen war. Em schlüpfte in die kleine Halle dahinter, schloss die Tür geräuschlos und lauschte einen Moment. Aber in der Küche schien alles still zu sein. Mit ein wenig Glück hatten Gladys und Cook sich um diese Uhrzeit zu einem Mittagsschläfchen in ihre Zimmer zurückgezogen. Die beiden waren nicht mehr die Jüngsten und sicher schon seit den frühen Morgenstunden auf den Beinen.
Em atmete noch einmal tief durch, bevor sie geräuschlos die Küche durchquerte und schließlich zur Haupttreppe gelangte. Ohne auch nur einen Blick auf die Tür zur Bibliothek zu werfen, stieg sie leise die Treppe hinauf zu Jonas’ Zimmer. Sie betete inständig, dass er sich nicht dort, sondern in der Bibliothek aufhalten möge.
Sie öffnete die Tür, ließ den Blick durch den Raum schweifen und seufzte erleichtert, als niemand zu sehen war. Dann schlich sie sich hinein, schloss die Tür und durchquerte das Zimmer bis zum Nachttisch.
Der Schlüssel lag dort, wo er vorher auch gelegen hatte. Sie nahm ihn an sich, ließ ihn in die Tasche gleiten und schloss die Schublade.
Sie hatte daran gedacht, Jonas über den Brief zu informieren, den Gedanken aber gleich wieder verworfen. Die Anweisungen waren eindeutig. Sie musste sofort handeln, und zwar allein. Falls der Verbrecher sie mit einer anderen Person zusammen sah, würde er die Zwillinge töten.
Und das durfte sie nicht riskieren. Weder durch Worte oder Taten noch durch irgendetwas anderes - und sie kannte Jonas gut genug, um sich vollkommen sicher zu sein, dass er sie niemals allein
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