Stolz und Verfuehrung
ließ den Blick durch die Zelle schweifen. Es gab kein Fenster, und wenn sie den Deckel in der Stellung beließ, wie er war, würde außerhalb der Zelle niemand sehen können, ob sie einen kleinen Rest der Juwelen zurückgelassen hatte - oder sogar einen sehr großen.
Em schaute in den Beutel, sah dann in die Truhe und beschloss, knapp ein Viertel des gesamten Bestandes zu opfern. Sie würde das nehmen, was ungefähr ihrem Anteil und dem der Zwillinge entsprach; den Rest, der für Henry und Issy und die künftigen Colytons bestimmt war, würde sie unangetastet lassen. Was sie in den Beutel füllte, würde jeden zufriedenstellen, der das gesamte Ausmaß des Schatzes nicht gesehen hatte - und die einzigen Menschen, die die Kostbarkeiten vollständig vor Augen gehabt hatten, waren Lucifer, Jonas, Issy und sie selbst gewesen.
»Er muss einen Blick darauf geworfen haben, als wir die Truhe in den Schankraum geschleppt haben«, murmelte sie.
Als Em den Beutel schulterte, stellte sie fest, dass sie den gesamten Schatz niemals hätte tragen können - selbst wenn sie es gewollt hätte.
Sie zurrte die Schnüre des Beutels fest, verließ die Zelle, schwang die Tür zu und schloss sie ab.
Wohin mit dem Schlüssel?
Em starrte ihn einen Moment lang an, eilte dann die Kellertreppe nach oben in ihr Büro. Es kostete sie nicht mehr als eine Minute, den Schlüssel in der Schatulle des Gasthauses zu verstauen, wo Jonas ihn früher oder später finden würde.
Sie warf einen Blick auf die Uhr. Ihr blieben noch sieben Minuten für den Weg zum Colyton-Gewölbe. Sie riss sich den Umhang vom Haken an der Tür, wickelte den Segeltuchbeutel hinein und eilte in den Schankraum.
»Edgar, ich mache schnell einen Spaziergang.«
Edgar stand an seinem üblichen Platz hinter dem Tresen und nickte. »Aye, Miss. Falls sich jemand nach Ihnen erkundigt, werde ich sagen, dass Sie bald wieder zurück sind.«
»Danke!«, rief sie und war schon zur Tür hinaus.
Em erreichte die Kirche und das obere Ende der Treppe zur Gruft, ohne jemanden zu sehen; ohne jemandem irgendeine Geschichte auftischen zu müssen, wohin sie es um diese Uhrzeit so eilig hatte. Sie hatte damit gerechnet, Joshua in der Kirche anzutreffen, doch dann war ihr eingefallen, dass er sich mit Issy auf einer Ausfahrt befand.
Sie fragte sich, ob er um Issys Hand angehalten hatte. Hoffte es und hoffte auch, dass ihre Schwester den Antrag angenommen hatte. Seit Jahren schon stellte Issy ihre eigenen Bedürfnisse zurück; niemand hatte ein gutes Leben mehr verdient als sie.
In der Sakristei blieb sie stehen und zündete mit zittrigen Händen eine der Laternen an, die dort bereitstanden. Sie bemerkte, dass der Schlüssel zur Gruft nicht am Haken hing. Vermutlich war der Weg frei, und der Verbrecher wartete dort bereits auf sie. Sie hob die Laterne mit einer Hand, den Segeltuchbeutel mit der anderen und eilte zur Treppe.
Em machte absichtlich viel Lärm, damit er - wer auch immer es sein mochte - bemerkte, dass sie unterwegs war. Wenn sie Glück hatte, würden die Zwillinge es ebenfalls hören und wissen, dass sie bald bei ihnen war.
Es gab einen weiteren Hinweis darauf, dass sich hinter dem Verbrecher jemand anders als ihr Onkel verbarg: Em konnte sich nicht vorstellen, dass die Zwillinge jemals wieder einwilligen würden, mit ihm irgendwohin zu gehen. Bea und Gertie mochten zwar jung sein, aber dumm waren sie beileibe nicht. Ganz gleich, was Harold ihnen versprochen hätte, die Zwillinge hätte ihm kaum Glauben geschenkt.
Und Silas Coombe hielten die Zwillinge in ihrer kindlich freimütigen Art schlicht für albern. Er hätte kein Glück bei ihnen gehabt, hätte er versucht, sie fortzulocken.
Was nur heißen konnte, dass der Verbrecher jemand war, den Em überhaupt nicht kannte. Jemand, den sie nicht einschätzen konnte, keine Pläne machen konnte für den Umgang mit ihm.
Während Em in die Dunkelheit der Gruft hinabstieg, die Laterne vor ihrem Körper, wusste sie nur eins: Was immer auch geschehen würde, sie musste einen klaren Kopf behalten, wenn sie und ihre Schwestern überleben wollten.
Auf den letzten Stufen verlangsamte Em den Schritt und schaute sich rasch um. Die Gräber und Grabsteine versperrten ihr die Sicht. Außerdem konnte sie niemanden hören, keine Atemzüge, keinen Husten und keine schabenden Schuhsohlen.
Sie hielt die Laterne höher, schaute nach vorn zum Eingang des Colyton-Gewölbes. Die Tür stand offen.
Sie machte sich auf den Weg zu den Grabstätten
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