Stolz und Verfuehrung
vier. Wenn er die Zeit einrechnete, die sie gebraucht hatte, um nach den Zwillingen zu suchen, die Nachricht des Entführers zu finden, ins Gutshaus zu kommen und den Schlüssel zu holen, dann den Schatz an sich zu bringen und ihn in die Kirche zu schaffen ... Er konnte sie noch einholen.
Noch bevor Jonas den Gedanken zu Ende gedacht hatte, war er auch schon auf dem Weg zur hinteren Tür, stürmte nach draußen und rannte los. Als er die erste Baumreihe erreicht hatte und auf den Weg durch den Wald einbog, wurden seine Schritte länger.
Der kürzeste Weg zur Kirche führte über das Gasthaus.
Es war, als würden sich eiskalte Finger um seinen Nacken klammern. Grausige Befürchtungen keimten in ihm auf und legten sich um sein Herz. Jonas wusste, dass sie Lösegeld zahlen und den Schatz aushändigen würde, um ihre Schwestern zu retten. Genau wie er es getan hätte. Aber bei Entführern handelte es sich immer um verzweifelte Menschen, und ganz besonders verzweifelt versuchten sie, ihre Identität zu verschleiern. Wie würde der Verbrecher reagieren, sobald Em und die Zwillinge ihn erblickt hatten?
Die Antwort lag auf der Hand. Jonas rannte schneller, die Stiefel hämmerten im Rhythmus seines Herzschlags auf den Boden.
Sollte die Liebe nur bei ihm eingekehrt sein, damit sie ihm gleich wieder entrissen wurde? Nein. Das durfte keinesfalls geschehen. Jonas würde alles geben, um Em in Sicherheit zu bringen. Sogar sein Leben.
Em hatte das Gefühl, als ob der Fels sie verschluckt hätte. Der schmale Pfad führte weiter und weiter, war gerade breit genug, um einem Menschen Platz zu bieten, und senkte sich langsam abwärts. Die Dunkelheit jenseits des kreisförmigen Lichts der Laterne war so undurchdringlich, dass sie die Wirklichkeit zu verschlingen schien. Die Welt schien nur noch aus dem winzigen Bruchstück zu bestehen, das sich in dem Schein ihrer Laterne zeigte.
Plötzlich verschwamm der vordere Rand des Lichtkreises. Em ging langsamer, bis ihr klar wurde, dass sie das Ende des Tunnels erreicht hatte. Sie blieb auf der Schwelle zu ... einer Höhle? Sie streckte die Hand mit der Laterne aus und spähte angestrengt in das Dunkel hinein. Aber das Licht erhellte keine Wände oder Decken. Es erhellte überhaupt nichts außer dem Fußboden vor ihr.
Und dieser Boden war uneben, zerklüftet und zeigte Risse. Sie ließ das Licht weiter nach vorn wandern und entdeckte helle weißliche Säulen, rau und unregelmäßig und geformt von dem Wasser, das von einer Decke tropfte, die sie nicht sehen konnte.
»Emily.«
Mehr und mehr hasste sie diese Stimme, die höhnisch und spöttisch klang. Sie nahm an, dass der lockende Ruf bedeutete, sie solle vortreten, und gehorchte. Bewegte sich langsam über den Boden der Höhle, suchte sich ihren Weg durch die zersplitterten Felsen, glitt an Einkerbungen und kleinen Erhebungen vorbei, an zahlreichen hellen Säulen, ging gleichmäßig weiter, vorsichtig, die Laterne vor sich haltend und dem leitenden Strahl des Lichts folgend.
Die Höhle - falls es eine war - schien enorm groß zu sein. Sie wollte gerade anhalten, wollte die körperlose Stimme zwingen, wieder zu sprechen, als sie etwas hörte ...
Em schwenkte die Laterne hin und her, blieb stehen, hielt den Atem an und lauschte ... und hörte gedämpfte Tritte, sanftes Gepolter und einen unterdrückten Schrei.
Em starrte in die Richtung, aus der die Geräusche kamen, raffte ihre Röcke zusammen, hielt die Laterne hoch und eilte voran. »Gertie? Bea? Seid ihr da?«
Das Gepolter wurde stärker, klang mehr wie ein Trommeln.
Die Mädchen trampelten mit ihren Absätzen auf dem Felsboden.
Em eilte weiter. Ein Gebilde weißer Säulen erhob sich vor ihr wie ein Dickicht. Sie umkurvte es und entdeckte eine niedrige Mauer - eine Stelle, wo der Fels nicht so weit abgetragen war wie umliegend. Das Getrampel drang von jenseits der Mauer an ihr Ohr. Sie umrundete auch die Mauer, ließ den Lichtstrahl der Laterne dahinter fallen - und erblickte ihre Halbschwestern geknebelt und gefesselt und mit den Händen auf den Rücken aneinandergebunden.
»Gott sei Dank!« Sie stürmte vorwärts, stellte die Laterne auf den Boden, fiel auf die Knie und umarmte beide Mädchen. »Ich bin bei euch. Ihr seid in Sicherheit.«
Em ließ die beiden wieder los, zog Gertie und Bea den Schal herunter, der ihnen um den Mund gebunden war.
»Nein, wir sind nicht in Sicherheit«, wisperte Gertie, die Stimme zu einem kaum hörbaren Flüstern gesenkt. »Er ist hier. Er hat
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