Stolz und Vorurteil - Vollständige Ausgabe (German Edition)
ihrer Gefühle zurückgefunden haben würden.
»Und dann«, sagte sie zu sich selbst, »wenn dies Unwahrscheinliche Wirklichkeit werden sollte, dann werde ich ihr auch nichts anderes sagen können, als Bingley es ihr auf eine viel bessere Art und Weise selbst beibringen wird. Ich werde erst sprechen, wenn ich nichts mehr zu sagen haben werde!«
In der Ruhe der häuslichen Umgebung fand Elisabeth jetzt Zeit und Gelegenheit, ihre Schwester zu beobachten und ihre wirkliche Gemütsverfassung festzustellen. Jane war nicht glücklich. Sie hegte noch dieselbe tiefe Neigung zu Bingley wie am Anfang. Da sie niemals vorher — nicht einmal ihrer eigenen Ansicht nach — verliebt gewesen war, hatten ihre jetzigen Gefühle die ganze Tiefe einer ersten ernsten Neigung; und so sehr lebte sie in der Erinnerung an ihn, so viel mehr als alle anderen Menschen hatte er ihr bedeutet, daß es ihrer ganzen Vernunft und der ganzen liebevollen Sorge Elisabeths bedurfte, um sie davon abzuhalten, ihren Gedanken an ihn allzuviel nachzuhängen.
»Nun, Lizzy«, sagte eines Tages Mrs. Bennet zu ihrer zweiten Tochter, »was hältst du jetzt von dieser traurigen Geschichte mit Jane und Bingley? Ich für mein Teil bin fest entschlossen, nie mehr darüber mit irgend jemandem zu sprechen. Erst gestern sagte ich das auch zu meiner Schwester. Aber ich kann nicht dahinterkommen, ob Jane ihn in London gesehen hat. Er ist ein äußerst undankbarer junger Mann, und ich fürchte, daß Jane jetzt keine Aussicht mehr hat, jemals seine Frau zu werden. Ich habe mich überall umgehört, aber kein Mensch glaubt, daß er in diesem Sommer wieder nach Netherfield kommen wird.«
»Ich glaube nicht, daß er überhaupt jemals wieder nach Netherfield zurückkehrt.«
»Nun, das muß er halten, wie er will. Niemand vermißt ihn hier. Aber ich werde mir nicht ausreden lassen, daß er meine Tochter außerordentlich schlecht behandelt hat. Ich an ihrer Stelle hätte mir das nicht so ohne weiteres gefallen lassen. Aber ich tröste mich damit, daß Jane bestimmt an gebrochenem Herzen sterben wird; dann wird ihm schon leid tun, was er angerichtet hat!«
Elisabeth konnte in dem Gedanken nicht den gleichen Trost finden wie ihre Mutter und schwieg daher.
»Die Collins leben also glücklich und zufrieden, sagtest du«, fuhr Mrs. Bennet gleich darauf fort. »Ich hoffe nur, daß das Glück von Dauer sein wird. Was für einen Haushalt führen sie eigentlich? Charlotte ist gewiß eine sehr tüchtige Hausfrau. Wenn sie nur halb so genau rechnen kann wie ihre Mutter, dann muß sie ganz schön sparen können. Ich möchte darauf schwören, daß es sehr bescheiden bei ihnen zugeht!«
»Ja, das tut es!«
»Das dachte ich mir, darauf paßt Charlotte schon auf. Ja, ja, die werden nie über ihr Einkommen leben und sich niemals Geldsorgen machen müssen. Nun, soll es ihnen gut bekommen! Ich nehme an, sie sprechen dort oft davon, daß Longbourn nach dem Tode deines Vaters ihnen gehören wird? Sie betrachten es wahrscheinlich schon als so gut wie ihr Eigentum, nicht wahr?«
»In meiner Gegenwart haben sie nie davon gesprochen.«
»Nein? Das hätte allerdings auch gerade noch gefehlt! Aber wenn sie allein sind, sprechen sie bestimmt häufig davon. Nun, wenn sie sich ohne Gewissensbisse an einem Besitz erfreuen können, der ihnen rechtmäßigerweise gar nicht zusteht, um so besser! Ich würde mich schämen, etwas zu besitzen, das mir auf solche Weise zugefallen wäre!«
41. KAPITEL
D ie erste Woche nach ihrer Rückkehr verging wie im Fluge, und die zweite brach an, die letzte für den Aufenthalt des Regiments in Meryton. Die jungen Mädchen der ganzen näheren und weiteren Umgebung gingen mit Gesichtern umher, als stehe das Ende der Welt bevor; kaum eine, die sich der allgemeinen Niedergeschlagenheit entziehen konnte. Jane und Elisabeth waren auf Longbourn die beiden einzigen, die noch mit Appetit essen und trinken und nach einem Tage voll der üblichen Beschäftigungen geruhsam schlafen konnten. Kitty und Lydia warfen ihnen häufig ihre Gleichgültigkeit vor; sie selbst erlitten den tiefsten Schmerz ihres jungen Lebens und konnten nicht begreifen, wo die beiden älteren Schwestern ihre Gefühllosigkeit hernahmen.
»Mein Gott, was soll aus uns werden? Was sollen wir bloß tun?« seufzten sie mit bitterer, gramerfüllter Stimme. »Wie kannst du da noch lächeln, Lizzy?«
Ihre besorgte Mutter litt mit ihren Kindern. Sie erinnerte sich, welchen Kummer sie bei einer ähnlichen Gelegenheit
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