Stolz und Vorurteil - Vollständige Ausgabe (German Edition)
ihre Reise um noch einen Tag verzögert hätte —!
Ihre Tante wies sie jetzt auf ein Bild hin, ein Miniaturporträt, in dem Elisabeth sogleich ein Jugendbildnis von Wickham erkannte. Die Haushälterin erklärte, das sei ein junger Herr, der Sohn eines früheren Verwalters, der zusammen mit dem Sohn des Hauses erzogen worden sei.
»Er ist jetzt in ein Regiment eingetreten«, fügte sie hinzu, »ich fürchte aber, er ist auf eine schiefe Bahn geraten.«
Mrs. Gardiner lächelte ihre Nichte an, aber Elisabeth konnte bei all ihrem Sinn für Humor das Lächeln nicht erwidern.
»Und dieses hier«, sagte Mrs. Reynolds, »ist das Bild von unserem Herrn; es wurde gleichzeitig mit dem andern vor etwa acht Jahren gemalt, aber es ist ihm immer noch sehr ähnlich.«
»Ich habe schon viel Gutes über Ihren Herrn gehört«, meinte Mrs. Gardiner, während sie sich das Bild näher betrachtete, »er hat ein sehr hübsches Gesicht. Aber du, Lizzy, wirst uns ja am besten sagen können, ob du ihn hier gut getroffen findest.«
Elisabeth stieg merklich in Mrs. Reynolds Achtung, als diese von ihrer Bekanntschaft mit ihrem jungen Herrn erfuhr.
»Die junge Dame kennt Mr. Darcy?«
»Flüchtig«, antwortete Elisabeth und errötete.
»Und halten Sie ihn nicht auch für einen sehr schönen Mann, gnädiges Fräulein?«
»Ja, er sieht sehr gut aus.«
»Ich weiß bestimmt, daß ich keinen stattlicheren Mann kenne; aber oben in der Galerie werden Sie ein noch besseres und größeres Bild von ihm sehen. Dieses Zimmer hier war der Lieblingsaufenthalt meines verstorbenen Herrn, seines Vaters; er hat die Miniaturen anfertigen lassen und liebte sie sehr.«
Dadurch erklärt es sich auch, daß Wickham immer noch da hängt, dachte Elisabeth.
Mrs. Reynolds wies dann noch auf ein kleines Bild hin, das Miss Darcy im Alter von acht Jahren darstellte.
»Und Miss Darcy sieht auch so gut aus wie ihr Bruder?« fragte Mr. Gardiner.
»Oh ja! Sie ist die hübscheste junge Dame, die man sich nur vorstellen kann. Und so klug und so gebildet! Am liebsten spielt sie Klavier und singt dazu vom Morgen bis zum Abend! Im Nebenzimmer steht ein ganz neues Instrument, gerade erst angekommen. Ihr Bruder will es ihr schenken; sie wird morgen mit ihm zusammen hier eintreffen.«
Mr. Gardiner, der eine freundliche und natürliche Art besaß, mit fremden Menschen umzugehen, verstand es, Mrs. Reynolds’ Mitteilsamkeit wachzuhalten; allerdings schien sie auch ein großes Vergnügen darin zu finden, voll Stolz und Anhänglichkeit von ihrem Herrn und dem jungen Fräulein zu reden.
»Hält Ihr Herr sich viel auf Pemberley auf?«
»Nicht so viel, wie ich es mir wünschen könnte, doch die Hälfte des Jahres bringt er fast immer hier zu. Und Miss Darcy kommt stets in den Sommermonaten her.«
»Falls sie nicht nach Ramsgate fährt«, konnte Elisabeth sich nicht enthalten, leise für sich hinzuzusetzen.
»Ihr Herr müßte heiraten, dann würden Sie ihn gewiß mehr zu sehen bekommen.«
»Ja, das wohl, aber ich weiß nicht, wann das der Fall sein wird. Ich kenne auch kein einziges junges Fräulein, das gut genug für ihn wäre.«
Mr. und Mrs. Gardiner lächelten.
Elisabeth konnte nicht umhin, zu bemerken: »Das spricht ja sehr für ihn, daß Sie so von ihm denken.«
»Ich spreche nur die Wahrheit«, war die Antwort, »und wer ihn so gut kennt wie ich, wird nichts anderes sagen können.«
Elisabeth dachte, dies gehe wohl doch ein wenig zu weit, und vernahm mit steigender Verwunderung, wie die Haushälterin hinzufügte: »Ich habe in meinem ganzen Leben noch nie ein böses Wort von ihm zu hören bekommen, und ich kenne ihn doch nun schon seit seinem vierten Lebensjahr.«
Sie hätte kein Lob aussprechen können, das weniger mit Elisabeths eigener Meinung über Darcy übereinstimmte. Wenn sie auch ihre Ansicht über ihn geändert hatte, so war Elisabeth doch felsenfest davon überzeugt geblieben, daß er unmöglich ein gutmütiger Mensch sein könne. Sie wartete gespannt darauf, mehr zu erfahren, und war ihrem Onkel dankbar, weil er nun sagte: »Das kann man wahrlich nur von den wenigsten Menschen behaupten. Sie haben es offenbar mit Ihrem Herrn sehr glücklich getroffen.«
»Ja, das weiß ich auch, und ich bin sicher, daß ich auf der ganzen Welt keinen besseren finden würde. Aber ich sage immer, ein Kind mit einem guten Charakter wächst auch zu einem Mann mit einem guten Charakter heran. Und einen lieberen und warmherzigeren kleinen Jungen, als mein Herr es gewesen
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