Stolz und Vorurteil - Vollständige Ausgabe (German Edition)
niemals ihn freundlicher reden gehört als bei diesem unvermuteten Wiedersehen. Welch ein Gegensatz zu jenen letzten Worten, die er damals, als er ihr den Brief gab, an sie gerichtet hatte! Sie wußte nicht, was sie denken, was sie von all dem halten sollte.
Sie befanden sich jetzt auf einem herrlichen Weg, der sie immer tiefer zum Fluß hinab und immer näher zu dem Wäldchen führte, das sich am Ufer entlangzog; aber es dauerte eine Weile, bevor Elisabeth irgend etwas von der Schönheit um sie herum gewahr wurde. Sie antwortete wohl auf die Fragen ihrer Verwandten und richtete ihren Blick dorthin, wohin sie wiesen, aber sie sah und hörte nichts. Ihre Gedanken kreisten nur um Pemberley und um Darcy. Sie wünschte sehnlichst zu wissen, was er in diesem Augenblick wohl dachte; ob er überhaupt an sie dachte, und wenn ja, wie er von ihr dachte; ob sie ihm, trotz allem, immer noch lieb sei. Vielleicht war er nur deshalb so freundlich gewesen, weil er sich nunmehr unbefangen und unbeteiligt fühlte; aber nein, seine Stimme, seine Haltung hatten keineswegs den Eindruck von Unbefangenheit erweckt. Ob er Freude, Schmerz oder Ärger bei ihrem Anblick empfunden hatte, das hätte sie nicht sagen können; aber daß er nicht gleichgültig gewesen war, daran konnte kein Zweifel bestehen.
Die Bemerkungen ihrer Begleitung rissen sie endlich aus ihren Gedanken, und der fragende Blick ihrer Tante gab ihr deutlich zu verstehen, daß sie sich jetzt zusammennehmen mußte, wollte sie sich nicht durch ihre Geistesabwesenheit verdächtig machen.
Ihr Weg führte sie schließlich zu einer kleinen, roh aus Stämmen gezimmerten Brücke, die den Fluß an einer Stelle kreuzte, wo das Tal sich zu einer Schlucht verengte. Elisabeth wäre zu gern drüben auf dem schmalen Fußpfad den Windungen des Flusses gefolgt, aber Mrs. Gardiner, die nicht sehr gut zu Fuß war, begann sich schon nach ihrem bequemen Reisewagen zurückzusehnen. Sie kehrten also um und nahmen den kürzesten Weg am Flußufer entlang in der Richtung zum Schloß. Sie kamen jedoch nur langsam weiter; denn Mr. Gardiner, der leidenschaftlich gern angelte, aber nur selten Zeit und Gelegenheit dazu fand, blieb jedesmal, wenn er eine Forelle in dem klaren Wasser entdeckte, stehen und sprach nach Anglerart eingehend mit dem Gärtner darüber, wie am besten an diese oder jene Stelle mit der Angel heranzukommen sei.
Während sie so langsam weiterschritten, wurden sie plötzlich von neuem durch den Anblick Darcys überrascht, der ihnen auf dem Wege entgegenkam. Elisabeth war kaum weniger erstaunt als beim ersten Mal; aber jetzt hatte sie wenigstens so viel Zeit, um sich auf die Begegnung vorzubereiten, und sie war fest entschlossen, sich diesmal keinerlei Erregung anmerken zu lassen, falls er stehenbleiben und sie anreden sollte. Einen Augenblick lang dachte sie nämlich, er werde vorher schon abbiegen und einen der Seitenpfade einschlagen. Aber als sie hinter der Wegbiegung hervortraten, die ihn verborgen hatte, stand er schon fast vor ihr. Sie sah gleich, daß er noch ebenso freundlich wie vorher gestimmt war, und um ihm darin nicht nachzustehen, fing sie an, kaum, daß er bei ihr angelangt war, ihrer Bewunderung über die Schönheiten des Parks Ausdruck zu geben. Sie hatte indes noch nicht die Worte ›reizend‹ und ›entzückend‹ ausgesprochen, da unterbrach sie ein unglückseliger Gedanke vielleicht könnte er ihrem Lob über Pemberley eine falsche Bedeutung beimessen —, und errötend verstummte sie wieder.
Mrs. Gardiner stand etwas hinter den beiden jungen Leuten; und als Elisabeth so plötzlich schwieg, bat Darcy, ihn mit ihren Freunden bekanntzumachen. Auf eine solche Liebenswürdigkeit war sie nun völlig unvorbereitet, und sie vermochte kaum ihr Lächeln darüber zu unterdrücken, daß er jetzt gerade die Menschen kennenzulernen wünschte, die er bei seinem Antrag als ein fast unüberwindliches gesellschaftliches Hindernis bezeichnet hatte.
»Er wird sich wundern, wenn er erfährt, wer sie sind«, dachte sie. »Noch hält er sie offenbar für irgendwelche Bekannte aus der Londoner Gesellschaft.«
Als sie bei der Vorstellung das nahe verwandtschaftliche Verhältnis zu Mr. und Mrs. Gardiner erwähnte, beobachtete sie ihn heimlich, um zu sehen, wie er das aufnehmen werde. Sie wäre nicht übermäßig erstaunt gewesen, wenn er vor so unebenbürtigen Leuten kurzerhand davongegangen wäre. Überrascht war er jedenfalls zweifellos, aber er trug es mit Fassung und ging nicht
Weitere Kostenlose Bücher