Stolz und Vorurteil - Vollständige Ausgabe (German Edition)
aber in ihrem Inneren konnte sie sich nicht so leicht mit diesem Plan abfinden. Die Möglichkeit, Darcy zu begegnen, während man sich Pemberley ansah, war nur zu naheliegend, und das wäre wirklich mehr als peinlich! Bei dem bloßen Gedanken daran wurde ihr heiß. Sie meinte zuerst, es sei am besten, ganz offen mit ihrer Tante darüber zu sprechen, entschied sich nach kurzer Überlegung aber doch dagegen und entschloß sich, diesen letzten Ausweg erst zu wählen, wenn sie erfahren sollte, daß die Familie wirklich anwesend sei.
Als sie sich schlafen legte, fragte sie daher das Stubenmädchen, ob Pemberley ein schöner Besitz sei, wie der Besitzer heiße und — ganz nebenher und mit klopfendem Herzen — ob die Familie sich wohl schon zu ihrem Sommeraufenthalt dort eingefunden habe. Auf diese letzte Frage erhielt sie die ersehnte verneinende Antwort und konnte sich jetzt unbekümmert und unbesorgt ihrer großen Neugierde hingeben, wie dieses vielgenannte Haus wohl aussehen mochte. Und als am nächsten Morgen das Gespräch wieder auf diesen Abstecher kam, bemerkte sie, es sei vielleicht doch ganz angebracht, dem Wunsche ihrer Tante zu folgen.
Also brach man nach Pemberley auf.
43. KAPITEL
E lisabeth hielt schon lange vorher Ausschau nach den ersten Anzeichen der Bäume von Pemberley, und als sie endlich das Parktor durchfuhren, konnte sie ihre Aufregung kaum verbergen.
Sie war zu sehr mit ihren Gedanken beschäftigt, um viel zu reden, aber sie beobachtete und bewunderte jeden schönen Flecken, jede schöne Aussicht. Der Weg stieg allmählich an, bis sie sich auf einer ziemlich steilen Höhe befanden, von wo aus der Blick über das dazwischenliegende Tal sofort durch das in fast gleicher Höhe befindliche Schloß gefangengenommen. wurde. Es war ein stattlicher, schöner Steinbau; hinter ihm stieg der bewaldete Hügel noch höher, während zu seinen Füßen ein Fluß mit ziemlich reißendem Gefälle dahinströmte. Elisabeth war wie bezaubert. Sie hatte noch nie einen Ort gesehen, der liebevoller von der Natur ausgestattet war. Keine Geschmacklosigkeit hatte die natürliche Schönheit verschandelt. Sie konnten sich alle nicht genug tun in ihrer Bewunderung und Begeisterung; und Elisabeth ertappte sich einen Augenblick bei dem Gedanken, daß es vielleicht doch nicht zu verachten sei, Herrin auf Pemberley zu sein!
Sie fuhren ins Tal hinab, über die Brücke und wieder hinauf vor das Eingangsportal. Während sie sich dem Hause näherten, kehrten alle Befürchtungen Elisabeths wieder zurück; wie schrecklich, wenn das Stubenmädchen sich geirrt haben sollte!
Sie baten, das Haus besichtigen zu dürfen, wurden eingelassen und höflich ersucht, einen Augenblick zu warten, bis die Haushälterin komme. Elisabeth fand also Muße, ihr Erstaunen darüber auszukosten, daß sie sich ausgerechnet an diesem Ort befand.
Dann kam die Haushälterin, eine würdig aussehende ältere Frau, die viel weniger vornehm tat und viel freundlicher war, als Elisabeth es sich vorgestellt hatte. Und während sie ihr durch die Zimmer folgten, begeisterte Elisabeth sich immer wieder von neuem an den schönen Ausblicken über Hügel, Fluß und Wälder, die jedes Fenster unverändert herrlich darbot; und sie freute sich innerlich nicht minder, zu sehen, daß die Einrichtung einen vornehmen, ruhigen Geschmack verriet, weniger Pracht, aber weitaus mehr Stilgefühl, als Rosings zeigte.
»Und über all dies hätte ich Herrin sein können!« dachte sie. »Mit diesen Räumen könnte ich schon ebenso vertraut sein wie diese nette Frau da. Anstatt sie als Fremde besichtigen zu müssen, könnte ich mich darüber als an meinem Eigentum freuen und dürfte meine Verwandten hier als meine Gäste empfangen! Aber nein«, erinnerte sie sich ernüchtert, »das wäre ja auf keinen Fall möglich gewesen, er hätte es mir ja niemals erlaubt, sie hierher einzuladen!«
Gut, daß sie sich daran erinnert hatte; es ersparte ihr noch manches überflüssige ›hätte‹.
So sehr ihr die Frage auf der Zunge brannte, sie brachte nicht den Mut auf, sich bei der Haushälterin zu vergewissern, daß ihr Herr wirklich nicht anwesend sei. Schließlich stellte aber ihr Onkel diese naheliegende Frage, und Elisabeth mußte sich rasch abwenden, um ihre Erregung zu verbergen, während Mrs. Reynolds erwiderte: nein, er sei noch nicht angekommen, sie erwarte ihn aber für morgen mit einer Anzahl seiner Freunde. Wie erleichtert atmete Elisabeth heimlich auf; wenn irgendein Zufall nun
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