Stolz und Vorurteil - Vollständige Ausgabe (German Edition)
hoffe, das Gespräch möge früher oder später auf ihre Schwester kommen. Hauptsächlich deswegen hatte sie das Gefühl, der halbstündige Besuch sei doch alles in allem recht zufriedenstellend verlaufen. Eifrig bestrebt, möglichst bald mit sich und ihren Gedanken allein zu sein, und voller Angst, ihre Tante und ihr Onkel könnten allerlei unbequeme Fragen stellen, blieb sie nur gerade noch so lange bei ihnen, um ihr begeistertes Urteil über Bingley zu hören, und eilte dann auf ihr Zimmer.
Aber sie hätte die Neugierde ihrer Verwandten nicht zu fürchten brauchen: keiner von beiden beabsichtigte, sie durch Fragen in die Verlegenheit zu bringen, mehr zu sagen, als sie selbst wollte. Sie wußten jetzt, daß ihre Nichte Darcy offenbar viel besser kannte, als sie angenommen hatten; und das glaubten sie ebenfalls zu wissen, daß er sie liebte. Jedoch sich einzumischen, das lag ihnen fern.
Sie hätten nur Sorge empfunden, wenn sie einen ungünstigen Eindruck von Darcy gewonnen hätten; aber so weit sie ihn nun schon kannten, hatten sie nichts an ihm auszusetzen. Das Bild entsprach völlig den Schilderungen der alten Haushälterin. Auch Gardiners Freunde in Lambton hatten nichts zu erzählen gehabt, was Mrs. Reynolds’ Worte Lügen gestraft hätte. Man erwähnte wohl Darcys großen Stolz; stolz war er ja auch, und selbst wenn er es nicht gewesen wäre, hätten ihn die Bewohner dieser kleinen Stadt wahrscheinlich dafür angesehen, weil er sich nicht um ihre Gesellschaft bemühte. Aber es wurde auch allgemein anerkannt, daß er sehr freigebig war und viel Gutes für die Armen tat.
Was Wickham anbetraf, so fanden die Gardiners sehr bald heraus, daß er sich nirgends großer Beliebtheit erfreute; denn wenn man auch von seinen Zwistigkeiten mit dem Besitzer von Pemberley nur munkeln gehört hatte, so war es doch eine überall bekannte Tatsache, daß er seinerzeit, als er von Derbyshire wegging, eine Unzahl von Schulden hinterließ, die dann von Darcy stillschweigend beglichen worden waren.
Elisabeth weilte an diesem Abend mehr noch als am gestrigen mit ihren Gedanken in Pemberley; doch so lang sich der Abend auch hinzuziehen schien, er war bei weitem nicht lang genug, als daß sie sich über ihre Gefühle für Darcy klarwerden konnte. Sie lag noch stundenlang wach in ihrem Bett und versuchte mit sich selbst ins reine zu kommen. Hassen — nein, hassen tat sie ihn schon lange nicht mehr, und fast ebenso lange hatte sie sich im stillen ihrer einstigen Abneigung gegen ihn geschämt. Die Achtung, die ihr die Erkenntnis seiner guten Eigenschaften zuerst sehr gegen ihren Willen aufgezwungen hatte, erregte auch schon längst keinen Widerwillen mehr in ihr; und das lobende Urteil, das sie gestern über ihn gehört hatte und das ihn in einem so unvermutet vorteilhaften Licht zeigte, verwandelte jetzt diese Achtung in eine sehr viel herzlichere Regung. Aber mehr noch als Achtung und Wohlwollen sprach noch ein anderes Gefühl für ihn — ihre Dankbarkeit. Dankbarkeit nicht deshalb, weil er sie einmal geliebt hatte, sondern Dankbarkeit, weil er sie noch so zu lieben schien, um die Ungehörigkeit und Schärfe, mit der sie ihn damals abgewiesen hatte, und alle ihre ungerechten Anschuldigungen zu vergessen und zu verzeihen. Er, der, wie sie meinte, sie als seine unerbittlichste Feindin hätte meiden müssen, zeigte sich bei diesem zufälligen Zusammentreffen eifrig bestrebt, die Bekanntschaft wieder anzuknüpfen und aufleben zu lassen; er bemühte sich, ohne sie durch ein Wort oder eine Miene in Verlegenheit zu bringen, die Freundschaft ihrer Verwandten zu gewinnen; und nicht zuletzt wünschte er, daß seine Schwester sich mit ihr anfreunde. Eine so tiefgehende Veränderung in dem Wesen eines Mannes von seiner stolzen Gesinnung konnte nicht bloß Verwunderung, sie mußte Dankbarkeit erwecken. Nur einer großen Liebe durfte man ein derartiges Wunder zuschreiben. Ohne sich über die Bedeutung dieser Schlußfolgerung klar zu werden, empfand Elisabeth doch ein befriedigendes Gefühl, dessen Reichweite sie nur noch nicht deutlich zu erkennen vermochte. Sie achtete und schätzte ihn, sie war ihm dankbar, sein Glück und Wohlergehen lagen ihr am Herzen. Sie war sich lediglich im Zweifel, wie weit sie wünschte, daß dieses Glück von ihr abhängen möge, und ob es wirklich zu ihrer beider Wohl sei, wenn sie die Macht, die sie — wie eine innere Stimme ihr zuflüsterte — über ihn besitzen mußte, dazu benutzte, um ihn wieder ganz für
Weitere Kostenlose Bücher