Stolz und Vorurteil - Vollständige Ausgabe (German Edition)
Grüblermiene zuflüstern konnte: »Ein höchst bedauerlicher Vorfall das, der wahrscheinlich bald in aller Munde sein wird. Aber wir müssen bemüht sein, den Lästerzungen entgegenzutreten und die Wunde in unseren Herzen mit dem Balsam schwesterlicher Liebe gegenseitig zu heilen.«
Da sie merkte, daß Elisabeth darauf nichts zu sagen gedachte, fügte sie hinzu: »Unglücklich, wie die Folgen für Lydia sein müssen, dürfen wir doch eine heilsame Lehre aus dem Ereignis ziehen: daß die weibliche Tugend, einmal verloren, unwiederbringlich dahin ist —, daß ein Fehltritt nie wieder gut zu machen ist, daß der gute Ruf eines Mädchens so leicht vergänglich wie kostbar ist, und daß man nicht genug auf der Hut sein kann gegen Übergriffe des unwürdigen anderen Geschlechts.«
Elisabeth sah sie voll Erstaunen an, fühlte sich aber zu bedrückt, um ihr etwas zu entgegnen. Mary fand also ihren ganzen Trost in der Moral, die sie in dem traurigen Ereignis entdeckte, das ihre Familie betroffen hatte.
Am Nachmittag endlich fanden die beiden älteren Schwestern Gelegenheit, eine halbe Stunde allein beisammen zu sein, und Elisabeth nutzte die Zeit unverzüglich dazu, um Jane nach allen möglichen Einzelheiten zu fragen. Nachdem beide sich ausgemalt hatten, welche Folgen diese schreckliche Geschichte nach sich ziehen könne, die selbst Jane nicht ganz unbedenklich zu finden vermochte, fuhr Elisabeth fort: »Aber erzähle mir jetzt alles, was ich noch nicht erfahren habe. Was weißt du noch? Was sagte Oberst Forster? Schöpften er und seine Frau keinen Verdacht, bevor es zu spät war? Sie müssen die beiden doch ständig zusammen gesehen haben!«
»Oberst Forster gab zu, daß er glaubte, eine gewisse Neigung bei ihnen, besonders bei Lydia entdeckt zu haben, aber eben nichts, was ihm Anlaß zu besonderer Beunruhigung gegeben hätte. Er tut mir ja so leid! Er war wirklich rührend nett und rücksichtsvoll. Er wollte zuerst nur zu uns kommen, um uns über ihre beabsichtigte Reise nach Schottland aufzuklären und nötigenfalls zu beruhigen; erst als er hörte, daß sie gar nicht nach Schottland gefahren waren, wurde er selbst unruhig und beschleunigte seine Abfahrt.«
»Und Denny war also überzeugt, daß Wickham nicht die Absicht hatte, Lydia zu heiraten? Wußte er etwas über ihr Verschwinden? Hat Oberst Forster selber mit Denny gesprochen?«
»Ja, aber als Denny von Forster ausgefragt wurde, da behauptete Denny, von nichts zu wissen, und wollte auch seine eigene Ansicht nicht mitteilen. Er sagte ihm nichts von seiner Überzeugung, daß Wickham Lydia nicht heiraten wolle. Und deshalb hoffe ich ja immer noch, daß man ihn zunächst falsch verstanden haben mag.«
»Und bevor Oberst Forster selbst hierher kam, ist da keinem von euch ein Zweifel an Wickhams Heiratsabsichten gekommen?«
»Nein! Wie hätten wir auch nur daran denken können! Mir war zwar nicht ganz wohl bei dem Gedanken. Ich hatte ein wenig Sorge, ob Lydia wohl glücklich mit ihm werden würde; denn sein Betragen ist ja nicht immer ganz so gewesen, wie es hätte sein müssen. Aber Vater und Mutter wußten von alledem ja nichts; sie waren nur der Ansicht, daß eine solche Ehe sehr unklug sei. Kitty gestand dann, mit einem verständlichen Stolz darüber, mehr zu wissen als wir anderen, daß Lydias letzter Brief an sie Andeutungen über ihre Absichten enthalten habe. Sie hatte offenbar schon seit Wochen gewußt, wie die beiden zueinander standen.«
»Und welche Meinung hatte Oberst Forster von Wickham? Kennt er seinen wahren Charakter?«
»Ich muß zugeben, er sprach nicht so wohlwollend über Wickham, wie er es sonst getan hat. Er schien ihn für unvernünftig und überspannt zu halten. Und wir haben seitdem auch noch gehört, daß er große Schulden in Meryton hinterlassen haben soll; aber ich hoffe, daß das nur ein Gerücht ist.«
»Ach, Jane, wären wir doch weniger verschwiegen gewesen! Hätten wir nur erzählt, was wir von ihm wußten, dann wäre all dies gewiß nicht geschehen!«
»Vielleicht wäre es besser gewesen«, erwiderte Jane, »aber es wäre doch unrecht gewesen, seine früheren Vergehen bloßzustellen, bevor man wußte, ob er sich nicht vielleicht mittlerweile geändert hatte. Wir haben in der besten Absicht gehandelt!«
»Konnte Oberst Forster Einzelheiten aus dem Schreiben an seine Frau angeben?«
»Er hat uns den Brief mitgebracht.«
Jane holte ihn aus ihrem Schreibtisch und gab ihn Elisabeth. Lydia hatte an Mrs. Forster folgendes
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