Stolz und Vorurteil - Vollständige Ausgabe (German Edition)
konnte.«
48. KAPITEL
M an hatte eigentlich für nächsten Morgen auf eine Nachricht von Mr. Bennet gehofft, und nun kam die Post, ohne auch nur eine Zeile von ihm zu bringen. Seine Familie kannte ja seine Schreibfaulheit; in diesem Fall jedoch hatten sie erwartet, daß er sich einmal ein wenig mehr anstrengen werde. Nun mußten sie wohl oder übel annehmen, daß er noch nichts Gutes mitzuteilen hatte, aber auch eine schlechte Nachricht wäre besser gewesen als diese Ungewißheit. Mr. Gardiner hatte nur die Post noch abwarten wollen und reiste gleich darauf ab. Jetzt durften sie wenigstens hoffen, ständig auf dem laufenden gehalten zu werden. Ihr Onkel hatte versprochen, ihren Vater so bald wie möglich zur Rückkehr nach Longbourn zu überreden. Das trug auch sehr zur Beruhigung Mrs. Bennets bei; denn sie war überzeugt, daß nur ihr Bruder das Wunder vollbringen könne, ihren Mann vor einem Duell und seinem verfrühten Tod zu retten.
Mrs. Gardiner beschloß, mit ihren Kindern noch einige Tage auf Longbourn zu verweilen, da sie glaubte, ihren Nichten von Nutzen sein zu können. Sie teilte sich mit ihnen in die Pflege ihrer Mutter und trug mit ihrer ruhigen, freundlichen Art viel dazu bei, daß wieder eine gewisse Ordnung auf Longbourn ihren Einzug hielt. Auch ihre andere Tante kam häufig von Meryton herüber, und zwar, wie sie selbst sagte, um sie aufzuheitern. Da sie aber jedesmal irgendeine neue Geschichte von Wickhams schlechtem Charakter zu berichten hatte, ließ sie ihre Nichten eigentlich meist in einer noch gedrückteren Stimmung zurück, als sie sie angetroffen hatte.
Ganz Meryton schien sich nun zusammenzutun, um diesen Mann, der vor drei Monaten allen noch fast wie ein Engel erschienen war, zu einem abgefeimten Teufel zu erklären. Kein Händler, bei dem er nicht Schulden hinterlassen hatte, kaum eine Bürgerfamilie, von der nicht angeblich die eine oder andere Tochter seinem Zauber erlegen war. Alle waren sich darüber einig, daß er der gemeinste Mensch in der Welt sei, und jeder einzelne war überzeugt, daß gerade er von Anfang an seiner Scheinheiligkeit mißtraut habe. Elisabeth glaubte nicht mehr als die Hälfte von allem, was ihr zugetragen wurde; doch das genügte schon, um ihre anfängliche Befürchtung, daß ihre Schwester rettungslos verloren sei, zu neuem Leben zu erwecken. Sogar Jane, die nur einen viel kleineren Bruchteil von allem zu glauben geneigt war, fing an, die Sache weniger hoffnungsvoll anzusehen, zumal sie von dem flüchtigen Paar längst etwas hätten hören müssen, wenn sie sich wirklich in Schottland hätten trauen lassen.
Mr. Gardiner hatte Longbourn am Sonntag verlassen, und schon am Dienstag erhielt seine Frau einen Brief, in dem er mitteilte, er habe sogleich nach seiner Ankunft seinen Schwager aufgesucht und ihn mit zu sich nach Hause genommen. Sein Schwager sei schon sowohl in Epsom wie in Clapham gewesen, jedoch ohne Erfolg, und jetzt beabsichtige er, in jedem Gasthaus und Hotel der Stadt Erkundigungen einzuziehen, da er es für wahrscheinlich halte, daß die beiden irgendwo abgestiegen seien, bevor sie eine Wohnung gemietet hätten. Er, Mr. Gardiner selbst, verspreche sich nicht viel von dieser Art Nachforschungen, aber da sein Schwager sich nun einmal darauf versteift habe, wolle er ihm gern dabei behilflich sein. Dem Brief war noch eine Nachschrift angefügt:
›Ich habe Oberst Forster geschrieben und ihn ersucht, nach Möglichkeit von Wickhams Freunden im Regiment herauszubekommen, ob er irgendwelche Angehörigen hat, von denen vielleicht zu erfahren sei, wo er sich hier in London verborgen hält. Wenn wir einen Verwandten von ihm ausfindig machen könnten, dann wäre uns bei unserer Suche sicher sehr geholfen. Vorläufig haben wir ja noch gar keinen Anhaltspunkt, nach dem wir uns richten können. Oberst Forster wird bestimmt alles tun, um uns unsere Aufgabe zu erleichtern. Übrigens — vielleicht kann uns Lizzy besser als sonst jemand sagen, ob und welche Verwandte er hat.‹
Elisabeth brauchte sich nicht lange zu überlegen, woher ihr Onkel dieses Zutrauen zu ihren Kenntnissen nahm; leider war sie nicht in der Lage, mit einer Auskunft dienen zu können, die dieses Vertrauen gerechtfertigt hätte. Sie hatte nie etwas von Verwandten von ihm gehört, außer von seinem Vater und seiner Mutter, die indes beide schon vor Jahren gestorben waren. Aber es war ja gut möglich, daß einer seiner Kameraden besser darüber Bescheid wußte; und wenn man sich auch nicht
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