Stolz und Vorurteil - Vollständige Ausgabe (German Edition)
nach dem Tor um, bei dem er gerade angelangt war. In der Hand hielt er einen Brief, den er ihr hinreichte, während er mit hochmütig gelassener Stimme sagte: »Ich bin schon eine Weile im Park umhergegangen in der Hoffnung, Sie anzutreffen. Würden Sie mir wohl die Ehre erweisen, diesen Brief zu lesen?«
Elisabeth nahm ihm das Schreiben ab, und Darcy ging nach einer kurzen Verbeugung wieder in den Park zurück.
Voller Neugierde, aber ohne viel Gutes von dem Schreiben zu erwarten, öffnete Elisabeth den Umschlag und entdeckte darin mit immer größer werdendem Erstaunen zwei engbeschriebene Bogen; auch ein Teil des Umschlages war noch beschrieben. Während sie ihren Weg fortsetzte, begann sie zu lesen. Der Brief lautete:
›Fürchten Sie nicht, mein gnädiges Fräulein, daß dieser Brief eine Wiederholung dessen enthält, was Ihnen gestern abend so großen Abscheu verursachte. Ich beabsichtige mit diesem Schreiben nicht, Sie weiter zu kränken oder mich zu demütigen, indem ich meinen Wünschen, die um unser beider willen möglichst bald vergessen sein mögen, erneut Ausdruck gebe. Die lästige Mühe des Schreibens wie des Lesens wäre uns erspart geblieben, hätte nicht mein Ehrgefühl mir das Schreiben befohlen. Ich muß Sie daher um Verzeihung bitten, daß ich Ihre Aufmerksamkeit noch einmal in Anspruch nehme. Ich weiß, Ihre Gefühle werden mir meine Bitte ungern erfüllen, aber Ihr Sinn für Gerechtigkeit wird Sie mich anhören lassen.
Zwei Anschuldigungen brachten Sie gestern abend gegen mich vor, ebenso verschieden in ihrem Inhalt wie in der Schwere der behaupteten Vergehen. Erstens, daß ich Ihre Schwester und Bingley ohne Rücksicht auf ihre gegenseitige Neigung auseinandergebracht habe —, zweitens, daß ich unter Mißachtung seiner rechtlichen Ansprüche und unter Mißachtung auch jeder moralischen Verpflichtung und jeder Menschlichkeit Mr. Wickham um eine aussichtsreiche Zukunft gebracht haben soll. Einfach aus einer Laune heraus und ohne irgendeinen stichhaltigen Grund meinen Jugendfreund so geschädigt zu haben, einen jungen Menschen, dem sich ohne meine Unterstützung kaum eine nennenswerte Existenzmöglichkeit bot und der als Liebling meines Vaters erwarten durfte, daß man ihm weiterhalf — das wäre allerdings eine Gemeinheit niedrigster Art; ihr gegenüber könnte die Trennung zweier junger Menschen, deren Zuneigung auf einer nur ein paar Wochen alten Bekanntschaft beruht, gar keinen Vergleich aushalten. Aber ich hoffe, nachdem Sie diesen Brief gelesen haben, werde ich in Zukunft von all den Beschuldigungen verschont bleiben, mit denen Sie mich gestern so freigebig in beiden Fällen bedachten. Wenn ich bisweilen in dieser Erklärung offen über Gefühle sprechen muß, die den Ihrigen zuwider sind, so kann ich dazu nur sagen: es tut mir leid. Aber was sein muß, muß sein — und weitere Entschuldigungen sind daher überflüssig.
Ich war noch nicht lange auf Netherfield, als ich, wie alle übrigen auch, bemerkte, daß Bingley Ihre älteste Schwester jedem anderen jungen Mädchen vorzog. Aber erst am Abend des Balles kam mir der Gedanke, sein Gefühl könne ernsthafter Natur sein: ich hatte ihn zu oft schon verliebt gesehen. Während ich mit Ihnen tanzte, erfuhr ich zufälligerweise aus Sir William Lucas’ Bemerkungen, daß Bingleys Aufmerksamkeit gegenüber Ihrer Schwester schon allgemein Anlaß zu Vermutungen und Gerüchten über seine bevorstehende Verlobung mit ihr gegeben hatte. Er sprach davon wie von einer feststehenden Tatsache, nur den genauen Zeitpunkt vermochte er noch nicht anzugeben. Von dem Augenblick an beobachtete ich meinen Freund noch schärfer und mußte die Entdeckung machen, daß die Art, in der er Ihrer Schwester den Hof machte, tatsächlich ein viel tieferes Gefühl, als ich es vermutet hatte, erkennen ließ.
Auch Ihre Schwester ließ ich jetzt nicht mehr aus den Augen. Ihre Miene und ihr Benehmen waren heiter und liebenswürdig wie stets, verrieten aber keine größere Zuneigung, und ich glaubte, nach diesem Abend die Gewißheit erlangt zu haben, daß seine Aufmerksamkeiten ihr wohl Freude machten, daß sie aber mit keinem dem seinen ähnlichen Gefühl sie herausforderte. Falls Sie sich nun nicht geirrt haben, dann muß der Irrtum bei mir liegen; da Sie Ihre Schwester genauer kennen, kann natürlich das letztere wahrscheinlicher sein. Wenn das der Fall ist, wenn ich mich so geirrt haben sollte, dann ist Ihr Zorn auf mich nicht unberechtigt. Aber ich scheue mich nicht,
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