Stolz und Vorurteil - Vollständige Ausgabe (German Edition)
Vaters meiner Obhut anvertraut; zusammen mit meinem Vetter Fitzwilliam übernahm ich die Vormundschaft über sie. Vor einem Jahr verließ sie die Schule, und in London richteten wir eine Wohnung für sie ein. Im Sommer fuhr sie jedoch mit der Dame, die zugleich ihre Erzieherin und Haushälterin war, zur Erholung aufs Land. Wickham folgte ihnen dorthin, und zwar mit einem festen Plan; denn wir mußten später erfahren, daß er sich mit der Erzieherin verabredet hatte, in deren Charakter wir uns so grausam getäuscht sahen: Mit ihrer Hilfe gelang es ihm, sich Georgiana zu nähern, und da ihr zutrauliches Herz sich noch all der Freundlichkeiten erinnerte, die er ihr als Kind erwiesen hatte, fiel es ihm nicht schwer, ihr einzureden, sie sei in ihn verliebt; so willigte sie in eine Entführung ein. Ihre einzige Entschuldigung ist, daß sie damals erst fünfzehn Jahre alt war, und es freut mich, daß ich alles noch rechtzeitig aus ihrem eigenen Munde erfuhr. Ich besuchte sie unerwartet wenige Tage vor der geplanten Entführung, und meine Schwester gestand mir alles ein. Sie konnte es nicht übers Herz bringen, mir einen Kummer zu bereiten, da sie mich von jeher fast wie ihren Vater betrachtet hatte.
Sie können sich meine Gefühle denken. Aus Rücksicht auf meine Schwester mußte ich alles geheimhalten. Ich schrieb Wickham, und er verließ sofort die Gegend. Zweifellos hatte er es bei dieser Schuftigkeit hauptsächlich auf die dreißigtausend Pfund meiner Schwester abgesehen, aber ebenso zweifellos hoffte er, sich auf diese Weise an mir rächen zu können. Seine Rache wäre wahrlich vollkommen gelungen!
Dieses, mein gnädiges Fräulein, ist also mein wahrheitsgetreuer Bericht über die beiden Fälle, die wir nun beide kennen. Falls Sie mich nicht einen Lügner nennen wollen, hoffe ich, daß Sie mich in Zukunft von dem Vorwurf der Grausamkeit gegen Wickham freisprechen werden. Ich weiß nicht, auf welche Weise und mit welcher Lüge er Sie für sich gewinnen konnte, aber sein Erfolg ist deshalb nicht so erstaunlich, weil Sie ja von seiner Vergangenheit nichts gehört hatten. Ihn zu durchschauen war Ihnen kaum möglich, und ihn zu verdächtigen lag Ihrer Natur nicht. Sie werden sich aber mit Recht wundern, warum ich Ihnen dies alles nicht schon gestern abend erzählt habe. Ich hatte mich indessen nicht genügend in der Gewalt, um zu wissen, was ich sagen durfte und was nicht.
Für die Wahrheit alles dessen, was ich hier berichtet habe, kann Ihnen Oberst Fitzwilliam bürgen, der auf Grund der Freundschaft, die uns beide verbindet, und dann auch durch die Tatsache, daß er zusammen mit mir Verwalter des Familienvermögens und Vormund meiner Schwester ist, über alle Einzelheiten so gut Bescheid weiß wie ich selbst. Wenn Ihr Abscheu vor mir meine Versicherung wertlos macht, dann kann Sie wenigstens nicht das gleiche Gefühl der Abneigung an seinen Worten zweifeln lassen. Und um Ihnen Gelegenheit zu geben, ihn zu befragen, will ich versuchen, Ihnen diesen Brief noch heute morgen zu übermitteln. — Ich möchte nur noch hinzufügen:
Gott segne Sie.
Fitzwilliam Darcy‹
36. KAPITEL
O b Elisabeth in dem Brief eine schriftliche Wiederholung des Antrages vermutet hatte oder nicht, viel erwartete sie sich bestimmt nicht von dem Schreiben, das ihr da so über das Parktor gereicht worden war. Aber man kann sich denken, mit welchem Eifer sie schon nach den ersten Worten die Zeilen überflog und welch widerstreitende Gefühle das Gelesene in ihr erweckte. Mit hellem Erstaunen stellte sie gleich zu Anfang fest, daß Darcy glaubte, eine hinreichende Erklärung für seine Handlungsweise abgeben zu können; war sie doch fest davon überzeugt, daß er darüber nichts werde sagen können, was seine Schande nicht noch offensichtlicher werden lasse. Und so begann sie denn auch seinen Bericht über die Ereignisse auf Netherfield mit tiefem Mißtrauen, dann packte sie aber ein solcher Eifer, daß sie gar nicht schnell genug weiterlesen konnte.
Seine Behauptung im ersten Teil des Briefes, er habe geglaubt, Bingley sei ihrer Schwester gleichgültig gewesen, tat sie sogleich als unwahr ab. Und die Aufzählung der Gründe, die seiner Ansicht nach gegen eine Heirat Bingleys mit Jane sprachen, versetzte sie wieder in eine solche Wut, daß jede Regung, ihm wenigstens Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, schon im Keim erstickt wurde. Er war doch zu selbstgefällig: kein Wort der Reue über das, was er angestiftet hatte; der ganze Ton des Briefes
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