Stolz und Vorurteil - Vollständige Ausgabe (German Edition)
noch einmal zu behaupten, daß die gleichbleibende Gelassenheit im Ausdruck und in der Haltung Ihrer Schwester auch dem besten Menschenkenner die Überzeugung verliehen hätte, daß sie bei aller Liebenswürdigkeit doch eine kühle Natur und von Bingleys Werbung im Grunde ihres Herzens unberührt geblieben sein müsse. Daß ich persönlich wünschte, er möge ihr gleichgültig sein, das gehört nicht hierher; meine Schlüsse und Entscheidungen haben mit meinen Wünschen und Befürchtungen nicht das Geringste zu tun. Ich glaubte also nicht, daß er ihr gleichgültig sei, weil ich das wünschte, sondern ich war davon nach dem, was ich gesehen hatte, ganz nüchtern und sachlich überzeugt. Meine Einwände gegen eine Heirat waren nicht nur diejenigen, die in meinem eigenen Fall nur von der Leidenschaft meiner Gefühle überrannt werden konnten — für meinen Freund konnte schließlich die niedrigere Herkunft kein so großes Hindernis sein wie für mich. Aber es gab noch andere Gründe, die ich zu vergessen wünschte, die ich aber hier aufzählen muß: die Verwandtschaft Ihrer Mutter war, wenn auch gerade kein Vorzug, so doch in meinen Augen nicht halb so bedenklich wie der auffällige Mangel an guten Manieren, an Schicklichkeitsgefühl und Takt, den Ihre Mutter und Ihre drei jüngeren Schwestern fortwährend und Ihr Vater gelegentlich bewiesen. Verzeihen Sie, es schmerzt mich, Sie kränken zu müssen. Aber lassen Sie es sich zum Trost gereichen, daß die Art, wie Sie und Ihre ältere Schwester sich benahmen, unter diesen Umständen besonders angenehm auffiel und Ihnen beiden das beste Zeugnis ausstellte. Ich möchte nur noch sagen, daß meine Erfahrungen und Beobachtungen an jenem Abend meinen Entschluß festigten, meinen Freund vor einer Verbindung zu bewahren, die ich für höchst unerwünscht halten mußte. Wie Sie sich erinnern werden, verließ er am nächsten Tag Netherfield in der Absicht, bald zurückzukehren.
Ich muß jetzt die Rolle, die ich spielte, erklären. Seine Schwestern waren ebenso beunruhigt wie ich; wir entdeckten bald die Übereinstimmung unserer Ansichten und beschlossen, keine Zeit zu verlieren und ihm nach London zu folgen. Als wir dort waren, sprach ich offen mit Bingley über die Nachteile und Gefahren seiner Wahl; ich berichtete ihm von meinen Beobachtungen und machte ihm die ernstlichsten Vorhalte. Aber, wenn ich dadurch auch vielleicht seine Entscheidung hätte verzögern können, schließlich wäre es doch zu der Heirat gekommen, wenn ich ihm nicht auch noch von meiner Überzeugung gesprochen hätte, daß Ihre Schwester seinen Gefühlen gleichgültig gegenüberstehe. Er hatte bisher gemeint, sie erwidere seine Neigung aufrichtig, wenn auch vielleicht nicht mit der gleichen Stärke. Bingley besitzt eine große natürliche Bescheidenheit, die ihn fast in allem meinem Urteil vertrauen läßt. Ihn zu überzeugen, daß er sich geirrt hatte, war also nicht schwer, und ihn davon abzuhalten, nach Netherfield zurückzukehren, nachdem er einmal überzeugt war, dazu bedurfte es kaum noch eines weiteren Wortes. Für alles, was ich bis dahin getan hatte, habe ich mir nichts vorzuwerfen. Nur, daß ich mich dann später dazu herbeiließ, insofern unaufrichtig zu handeln, als ich ihm die Anwesenheit Ihrer Schwester in London verschwieg, das könnte einen Vorwurf rechtfertigen. Ich wußte von ihrer Ankunft so gut wie seine Schwestern; es ist auch möglich, daß er ihr damals schon ohne Gefahr hätte begegnen können, aber darauf wollte ich es nicht ankommen lassen. Diese Heimlichkeit war möglicherweise meiner nicht würdig, aber es ist nun einmal geschehen, und es ist zu seinem Besten geschehen. Darüber bleibt jetzt also nichts weiter zu sagen, und ich glaube nicht, daß meine Handlungsweise einer besonderen Entschuldigung bedarf. Wenn ich die Gefühle Ihrer Schwester verletzt habe, dann habe ich es unwissentlich und unbeabsichtigt getan; ich bin nach wie vor überzeugt, daß ich nur getan habe, was getan werden mußte.
Was nun Ihren zweiten, gewichtigeren Vorwurf betrifft, ich hätte Wickham ein Unrecht zugefügt, so kann ich ihn nur dadurch zurückweisen, daß ich Ihnen die ganze Geschichte seiner Verbindung mit meiner Familie darlege. Die Einzelheiten seiner Anschuldigungen kenne ich nicht; aber für die Wahrheit meines nun folgenden Berichts kann ich mehr als einen glaubwürdigen Zeugen beibringen. Wickham ist der Sohn eines sehr ordentlichen Mannes, der einige Jahre lang den ganzen Pemberleyschen
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