Stolz und Vorurteil - Vollständige Ausgabe (German Edition)
bestätigte nur von neuem seine grenzenlose, unverschämte Überheblichkeit.
Aber als danach seine Eröffnungen über Wickham folgten, als sie dann wieder etwas ruhiger und aufmerksamer diesen Bericht über ihren früheren Verehrer las, der, wenn er der Wahrheit entsprach, alle ihre Vorstellungen von seinem Wert zunichte machte, da empfand sie einen fast körperlichen Schmerz und fühlte sich von aller Welt verraten. Ein furchtbares Entsetzen bemächtigte sich ihrer. Sie wollte das alles nicht glauben, sie konnte das gar nicht glauben. Wiederholt rief sie, ohne es selbst zu merken, aus: »Das ist nicht wahr! Das kann doch nicht stimmen! Das muß doch eine niederträchtige Lüge sein!«
Als sie den ganzen Brief durchgelesen hatte, ohne jedoch von der letzten Seite auch nur ein einziges Wort wirklich begriffen zu haben, steckte sie ihn eilig fort und nahm sich vor, sich nicht im geringsten durch ihn beeinflussen zu lassen und ihn nie wieder anzusehen. Aber es nützte nichts: nach einigen Augenblicken holte sie den Brief wieder hervor, versuchte, so gut sie es vermochte, ihre Fassung wiederzuerlangen, und begann von neuem den niederschmetternden Bericht über Wickham zu lesen, indem sie sich selbst befahl, bei jedem Satz so lange zu verweilen, bis sie seinen Inhalt und seine Bedeutung vollständig aufgenommen habe. Was Darcy da über Wickhams Beziehungen zu der Familie in Pemberley sagte, stimmte genau mit dem überein, was dieser selbst ihr erzählt hatte; von der Zuneigung des alten Mr. Darcy zu dem Knaben, davon hatte sie auch durch Wickham selbst gehört, obschon nicht mit so vielen Einzelheiten wie hier. So weit bestätigte also ein Bericht den anderen. Aber in bezug auf das Testament des alten Mr. Darcy gingen die beiden Erzählungen auseinander. Sie konnte sich noch genau an das erinnern, was Wickham ihr darüber mitgeteilt hatte. Eine der beiden Fassungen mußte demnach bewußt erlogen sein; und einen Augenblick lang redete sie sich ein, daß ihr Gefühl sie in diesem Fall nicht getäuscht haben konnte. Aber als sie die fragliche Stelle in dem Briefe noch einmal durchlas, in der von Wickhams Verzicht auf die Pfarre gegen eine Abfindung von dreitausend Pfund die Rede war, wurde sie wieder unsicher. In dem Wunsche — und auch in der Überzeugung —, alles unparteiisch zu betrachten, wog sie alles das, was sie nun wußte, gegeneinander ab und versuchte, die größere Wahrscheinlichkeit dieser oder jener Behauptung zu ergründen; doch sie kam zunächst zu keinem Ergebnis. Behauptung stand gegen Behauptung, bewiesen war nichts. Sie las die Stelle noch ein drittes Mal, und nun erschien ihr plötzlich, was sie eben noch als völlig ausgeschlossen von sich gewiesen hatte, durchaus nicht mehr so unmöglich: daß nämlich Darcys Verhalten in diesem Fall vielleicht doch gerechtfertigt gewesen sei.
Der leichtfertige Lebenswandel und die allgemeine Charakterlosigkeit, deren Darcy seinen Jugendgefährten so unumwunden bezichtigte, entsetzten sie zutiefst, umso mehr, als sie keinen Anhalt dafür hatte, daß die Anschuldigung zu Unrecht erfolgte. Sie hatte ja von Wickham, bevor er auf Dennys Anraten in dessen Regiment eingetreten war, noch nie etwas gehört, und auch von Denny erfuhr sie nur, daß er ihn zufällig nach Jahren in London wiedergetroffen und dort die frühere flüchtige Bekanntschaft mit ihm erneuert hatte. Von Wickhams Vergangenheit wußte sie nur das, was er selbst ihr erzählt hatte. Sie wäre niemals auf den Gedanken gekommen, der Wahrheit seiner Worte nachzugehen, selbst wenn das in ihrer Macht gelegen hätte. Die Art seines Auftretens, sein Aussehen, seine Stimme, nichts hatte je einen Zweifel an seiner Lauterkeit in ihr hervorgerufen. Sie versuchte jetzt, sich irgendeines Beispiels zu erinnern, das seinen guten Charakter unbestreitbar erweisen und Darcys Angriffe auf ihn widerlegen könnte; oder das es ihr wenigstens ermöglichte, in seinen Fehlern und Vergehen, die Darcy einer inneren Haltlosigkeit zuschrieb, nur Irrtümer und jugendlichen Leichtsinn zu sehen. Aber keine solche Erinnerung wollte ihr zu Hilfe kommen. Sie vermochte ihn zwar deutlich vor sich zu sehen mit seinem gewinnenden Wesen und seiner glänzenden Erscheinung, aber sie hätte nicht eine einzige Gelegenheit nennen können, bei der er die vielen guten Eigenschaften, die man ihm allgemein und ohne Zögern beigelegt hatte, durch die Tat wirklich bewiesen hätte.
Nachdem Elisabeth in ihren Überlegungen so weit gekommen war, kehrte sie
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