Stolz und Vorurteil - Vollständige Ausgabe (German Edition)
wieder zu dem Brief zurück.
Tatsächlich! Die Geschichte seines Anschlags gegen Miss Darcy, die jetzt folgte, wurde in gewisser Weise durch gewisse Andeutungen Oberst Fitzwilliams am Tage zuvor bestätigt. Und hier, am Schlusse seines Briefes, wies Darcy sie auf denselben Fitzwilliam als Zeugen für die Wahrheit seiner Behauptungen hin — auf Fitzwilliam, der ihr schon selbst erzählt hatte, wie gut er mit allen Angelegenheiten seines Vetters vertraut war, und an dessen Aufrichtigkeit zu zweifeln sie gar keinen Anlaß sah. Fast hätte sie den Entschluß gefaßt, sich jetzt an den Obersten zu wenden, aber das wäre doch allzu peinlich gewesen, und so kam sie wieder von dem Gedanken ab. Außerdem sagte sie sich, daß Darcy ihr diesen Zeugen nicht genannt hätte, wenn er nicht wüßte, daß er wirklich jedes einzelne seiner Worte bestätigen würde.
Sie rief sich ihr erstes Zusammentreffen mit Wickham bei ihrer Tante ins Gedächtnis. Sie konnte sich noch genau an einzelne Ausdrücke, ja sogar an ganze Sätze von ihm erinnern. Mit einem Mal kam es ihr zum Bewußtsein, daß die Art seiner Unterhaltung eigentlich sehr unpassend gewesen war, und sie wunderte sich, daß ihr nicht schon damals aufgefallen war, wie er sich und seine Lebensgeschichte sogleich in den Vordergrund gestellt hatte. Sie erkannte jetzt auch, daß sein Handeln fast immer seine Worte Lügen gestraft hatte: er prahlte damit, keine Angst vor einer Begegnung mit Darcy zu haben — Darcy könne ihm ja aus dem Wege gehen, er selbst habe ihn nicht zu scheuen —, und am nächsten Abend blieb er trotzdem dem Ball auf Netherfield fern. Vor der Abreise der Netherfielder hatte er nur ihr seine Leidensgeschichte eröffnet; aber kaum war Darcy fort, führte jeder sie im Munde. Und obwohl er versicherte, daß seine Verehrung für den Vater ihn niemals schlecht über den Sohn sprechen lasse, machte es ihm ganz offensichtlich keine großen Gewissensbisse, Darcy durch seine abfälligen Äußerungen in aller Ansehen herabzusetzen.
Wie anders sah jetzt alles aus, wenn sie zurückdachte! Seine Aufmerksamkeiten Miss King gegenüber erschienen ihr jetzt als verabscheuenswerte Berechnung; und daß er sich mit einem so geringen Vermögen wie dem ihren zufrieden geben wollte, bewies nun in ihren Augen nicht etwa eine Mäßigung seiner Wünsche, sondern bloß seinen Eifer, seine Gier, möglichst bald wieder zu Geld zu kommen. Auch auf sein Benehmen gegen sie selbst konnte sie sich jetzt nichts mehr einbilden; entweder hatte er ihr Vermögen falsch eingeschätzt, oder aber hatte er nur seine Eitelkeit befriedigen wollen, indem er die Neigung, die sie zu ihm gefaßt und — leider! — zu offen gezeigt hatte, stärker zu entfachen suchte. Je länger sie nachdachte, um so schwächer wurde ihr Widerstand gegen Darcys Anschuldigungen. Auch das sprach ja für Darcy, daß Bingley damals auf Janes Fragen das korrekte Verhalten seines Freundes in der bewußten Angelegenheit ausdrücklich betont hatte; daß sie, so stolz und hochmütig er auch sein mochte, doch niemals während der ganzen Zeit ihrer Bekanntschaft mit ihm — und sie war doch in den letzten Wochen so häufig mit ihm zusammengekommen, daß sie darüber wohl urteilen durfte — irgend etwas an ihm bemerkt hatte, was auf einen unaufrichtigen oder wankelmütigen Charakter schließen ließ. Alle seine Freunde liebten ihn und schätzten ihn hoch. Sogar Wickham hatte zugeben müssen, daß er ein vorbildlicher Bruder sei. So zärtlich hatte er immer von seiner Schwester geredet, wie ein Mensch ohne jede liebenswerte Eigenschaft es bestimmt nicht fertiggebracht hätte. Er hätte unmöglich seine wahre Natur so lange verbergen können, wäre sie wirklich so gewesen, wie Wickham sie hingestellt hatte. Schließlich war es doch auch undenkbar, daß ein Mensch, der solcher Gemeinheiten, wie er sie begangen haben sollte, fähig war, mit einem Mann wie Bingley befreundet sein konnte.
Elisabeth fing an, sich vor sich selbst zu schämen; ob sie nun an Darcy oder an Wickham dachte, sie wußte, daß sie blind, parteiisch, voreingenommen und ganz und gar töricht gehandelt hatte.
»Wie dumm habe ich mich benommen!« rief sie aus. »Ich, die ich mir immer etwas auf meine Menschenkenntnis eingebildet habe, ich, die ich immer auf meine Fähigkeiten so stolz war! Ich, die die Hochherzigkeit und Güte meiner Schwester so oft verspottete und auf meinem eitlen, dummen Mißtrauen verharrte! Wie ich mich schämen muß! Und wie recht geschieht
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