Stolz und Vorurteil - Vollständige Ausgabe (German Edition)
mir! Wäre ich verliebt gewesen, ich hätte nicht blinder sein können. Aber ich war nicht verliebt; ich war einfach verbohrt! Eingebildet, eitel war ich! Freute mich über die Aufmerksamkeiten des einen, kränkte mich über die Vernachlässigung durch den anderen! Gleich von Anfang an habe ich mich an Vorurteile geklammert und die Vernunft nicht zu Worte kommen lassen. Bis zu diesem Augenblick habe ich mich selbst nicht gekannt!«
Von sich selbst wanderten ihre Gedanken zu Jane, von ihr zu Bingley und von ihm zu der Erinnerung, daß Darcys Erklärungen ihr in dieser Hinsicht sehr oberflächlich und ungenügend vorgekommen waren. Aber auch da — wie verschieden war ihr Eindruck beim neuerlichen Lesen! Wie sollte sie ihm auch in dem einen Fall Glauben schenken können, wenn sie ihm in dem anderen mit Zweifeln und Mißtrauen begegnete? Er sagte, er habe von Janes Gefühlen, von ihrer Zuneigung zu Bingley nichts geahnt — und Elisabeth mußte unwillkürlich an Charlottes Meinung über ihre Schwester denken. Auch konnte sie ehrlicherweise seiner Beschreibung von Jane nicht unrecht geben. Sie selbst hatte immer das Gefühl gehabt, daß die Zuneigung ihrer Schwester, so tief empfunden sie auch sein mochte, doch zu sehr hinter ihrer gleichmäßig freundlichen Miene und Haltung verborgen blieb, als daß Außenstehende sie hätten erkennen können.
Als sie wieder zu dem Teil des Briefes kam, in dem er in so kränkender und doch auch berechtigter Weise von ihrer Familie sprach, vertiefte sich ihre Beschämung noch. Sie wußte, daß sie sich selbst belog, wenn sie seine Behauptungen abstritt; der Abend auf dem Ball in Netherfield, der so sehr dazu beigetragen hatte, ihn gleich zu Anfang in seinem Urteil zu bestärken, hätte auch in seinem Gedächtnis keine peinlicheren Erinnerungen wachrufen können als in ihrem.
Das Kompliment für sie und ihre Schwester klang aufrichtig gemeint. Es konnte sie aber nur wenig über die Geringschätzung hinwegtrösten, die ihre übrige Familie selbst verschuldet hatte; und als sie sich überlegte, daß Janes ganzer Kummer und Schmerz ihr tatsächlich von ihren eigenen nächsten Verwandten zugefügt worden war und daß ihrer beider Ansehen unter dem Benehmen ihrer Familie leiden mußte, überkam sie eine derart bedrückte Stimmung, wie sie sie nie zuvor empfunden hatte.
Zwei Stunden lang wanderte sie so den Weg auf und ab, verfolgte jeden neu auftauchenden Gedanken, versuchte, alles Geschehene zu Ende zu überlegen, wog Möglichkeiten und Wahrscheinlichkeiten gegeneinander ab und gab sich Mühe, sich mit der so plötzlichen und vollständigen Umstellung ihrer Ansichten und Urteile abzufinden, bis Erschöpfung sie zwang, wieder nach Hause zurückzukehren. Mit dem festen Entschluß, den anderen ein heiteres Gesicht zu zeigen und jeden Gedanken zu unterdrücken, der sie daran hindern konnte, an der allgemeinen Unterhaltung teilzunehmen, betrat sie das Wohnzimmer.
Sie erfuhr sogleich, daß die beiden Herren in ihrer Abwesenheit einen Besuch gemacht hatten, Mr. Darcy nur kurz, um sich zu verabschieden, während Oberst Fitzwilliam fast eine Stunde auf sie gewartet habe. Elisabeth brachte es zwar fertig, ein gewisses Bedauern darüber vorzutäuschen, daß sie ihn verpaßt hatte, aber innerlich freute sie sich dessen: Oberst Fitzwilliam bedeutete ihr nichts mehr; sie konnte nur noch an ihren Brief denken.
37. KAPITEL
D ie beiden Herren reisten am anderen Morgen ab, und Mr. Collins, der sich rechtzeitig am Weg aufgestellt hatte, um ihnen seine Abschiedsreverenz zu machen, kehrte mit der erfreulichen Nachricht zurück, daß beide sich in bester gesundheitlicher Verfassung befunden zu haben schienen, wenn auch nicht gerade in glänzender Laune, was man ja allerdings nach einem so schmerzlichen Abschied wie dem von Rosings auch nicht erwarten könne. Dann eilte er zu Lady Catherine, um ihr und ihrer Tochter Trost zu spenden, und überbrachte bei seiner Rückkehr eine Einladung Lady Catherines, die der Abschied so mitgenommen habe, daß sie zu ihrer Zerstreuung etwas Gesellschaft bei ihrer Abendtafel wünsche.
Elisabeth konnte Lady Catherine nicht anschauen, ohne daran denken zu müssen, daß es in ihrer Macht gelegen hatte, ihr heute als ihre künftige Nichte vorgestellt zu werden; und bei dem Gedanken an die Entrüstung der hohen Dame mußte sie lächeln. Was hätte sie wohl gesagt? Wie hätte sie sich verhalten? Mit solchen Fragen vertrieb Elisabeth sich die Zeit.
Zunächst sprach man von der
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