Stone Girl
bei Shaw funktionieren würde.
Shaw hat ihr sowieso gerade den Rücken zugewandt. Er hat sich fast schon zur Embryonalhaltung zusammengerollt. Sethie rutscht ans Ende des Betts und schleicht sich auf Zehenspitzen zum Badezimmer. Sie schließt die Tür hinter sich und macht das Licht an. Ihre Augen sind knallrot. Sieht aus, als hätte sie letzte Nacht geweint, aber das kommt wahrscheinlich nur vom Kotzen, denkt sie. Sie kleidet sich an. Am liebsten würde sie Shaws Shirt anziehen und es mit nach Hause nehmen, wie es die Mädchen in Filmen machen, aber dann hätte Shaw später nichts anzuziehen.
Sie geht zu Janeys Zimmer. Sie ist überrascht, dass Janey schon wach ist. Sie liegt im Bett und telefoniert. Als sie Sethie erblickt, winkt sie. Sethie kommt ins Zimmer und setzt sich auf die Bettkante. Jane hält die Sprechmuschel zu. »Doug bringt uns einen Kaffee vorbei. Willst du irgendwas?«
Sethie schüttelt den Kopf. »Ich geh besser nach Hause.«
Janey nickt. Sethie wendet sich ab, als Janey Doug ihre Bestellung durchgibt, noch ein bisschen mit ihm flirtet und sich verabschiedet.
»Schläft Shaw noch?« Sethie nickt. Janey streckt die Arme nach oben.
»Ich kann nicht glauben, dass du nicht schläfst«, sagt Sethie. »Du warst bis vor ein paar Stunden noch auf.« Vor so wenigen Stunden, denkt Sethie, dass der Zigarettengeruch noch immer im Zimmer hängt, obwohl sie nach Kräften versucht haben, ihn aus dem Fenster zu blasen.
Janey lächelt. »Du doch auch.«
Sethie zuckt die Achseln. Janey lächelt genau dasselbe Lächeln wie heute Morgen um fünf, denkt sie. Das Lächeln für Doug.
»Musst du wirklich schon gehen?«, fragt Janey.
»Ja, ich hab ein Englischreferat.«
»Ääää«, stöhnt Janey. »Ich kann’s nicht erwarten, bis das Semester endlich vorbei ist und unsere Noten keine Rolle mehr spielen.«
»Ich auch nicht«, erwidert Sethie, obwohl sie sich nicht vorstellen kann, dass sie damit aufhören könnte, nach glatten Einsen zu streben.
»Nun gut, ich werde Shaw dann bald mal aufwecken. Du musst nicht auf ihn warten. Seine miesen Schlafgewohnheiten sollen sich schließlich nicht auf deine exzellenten Lerngewohnheiten auswirken.«
»Stimmt«, sagt Sethie. Sie fragt sich, ob Shaw wohl schlecht drauf sein wird, wenn Janey ihn weckt.
Janey begleitet sie zum Aufzug und umarmt sie. Sethie kann das Verbindungshaus noch in ihrem Haar riechen.
»Ich rufe dich später an«, verspricht Janey, während sich die Aufzugtüren schließen.
Als Sethie nach Hause kommt, kann sie ihre Mutter durch deren geschlossene Zimmertür in der Dusche hören. Sethie geht in ihr eigenes Zimmer, zieht sich ihre Pyjamahose an und kommt dann hinaus ins Wohnzimmer. Sie verteilt ihre Französischhausaufgaben über dem Couchtisch und setzt sich aufs Sofa. Die Tür zu Rebeccas Zimmer befindet sich direkt neben dem Wohnzimmer. Als Rebecca sie endlich öffnet, sieht sie Sethie auf der Couch sitzen und Verben konjugieren.
»Morgen«, sagt Rebecca.
»Hi.«
Es ist schon nach Mittag und ihre Mutter soll ruhig annehmen, Sethie habe bei Janey gegessen. Sethie hat vor, heute bis zum Abendessen zu fasten. Das sollte eigentlich nicht zu schwer sein, denkt sie. An den meisten Wochentagen steht sie um sieben Uhr auf und isst bis elf oder zwölf nichts. Da sie heute erst um Mittag herum aufgestanden ist, sollte es ungefähr auf das Gleiche herauskommen, wenn sie ihre erste Kalorie erst nach sechs zu sich nimmt.
Ihre Mutter zieht irgendwelche Unterlagen unter Sethies Schulbuch hervor. Der FAFSA-Antrag, Sethie erkennt ihn. Sie kann sich nicht erinnern, was FAFSA genau heißt, sie weiß nur, dass eines der »A«s für »aid«, für »Hilfe« steht. Rebecca setzt sich neben Sethie auf die Couch und beginnt, die Dokumente durchzublättern. Sie kaut auf ihrer Unterlippe herum. Als sie sicher ist, dass Rebecca es nicht bemerken wird, mustert Sethie ihre Mutter. Rebecca sitzt mit bloßen Füßen im Schneidersitz. Ein paar Sekunden lang starrt Sethie Rebeccas Füße an. Sie sind wirklich unfassbar klein. Sethie krümmt ihre Zehen – sie hat Schuhgröße 39/40 und fragt sich, warum sie nicht solche Füße bekommen konnte wie ihre Mutter. Eine Frau mit Schuhgröße 39/40 wird nie als zart, zierlich oder auch nur klein durchgehen.
Sethie merkt, dass Rebecca die Anträge auf finanzielle Unterstützung nur überfliegt. »Du wirst die doch ausfüllen, Mom, oder?«
»Na klar«, antwortet Rebecca. Sethie findet, sie klingt nicht ernst genug.
»Du weißt,
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