Stone Girl
wann Abgabeschluss ist?«
»Ja.«
»Ich kann es dir aufschreiben.«
»Sethie«, sagt Rebecca aufgebracht, »ich weiß, wann Abgabeschluss ist.«
»Okay, aber du weißt ja wohl auch, dass du nicht unbedingt bis zum Stichtag warten musst. Du kannst doch jetzt schon mal mit dem Ausfüllen anfangen.« Sethie hat ihre College-Bewerbungen frühzeitig fertiggestellt, so wie sie alles frühzeitig erledigt. Rebecca hingegen ist immer zu spät dran. Zu spät mit der Miete und zu spät mit dem Scheck für die Schulgebühren für die White, obwohl sie mit Sethies Stipendium nichts weiter zahlen muss als die Bücher und gelegentlich ein paar Extras für Jahrbücher oder wenn Sethie auf Klassenfahrt geht. Manchmal glaubt Sethie, Rebecca würde die Zahlungen ganz vergessen, wenn sie sie nicht daran erinnern würde.
Rebecca sagt: »Mach dir darüber keine Sorgen.«
»Es ist aber wichtig«, erwidert Sethie. »Und du solltest die Unterlagen nicht einfach so auf dem Couchtisch rumliegen lassen, weißt du? Du solltest sie an einem sicheren Ort verwahren.«
»Du könntest uns bei Bedarf doch immer neue besorgen.«
»Es wäre aber besser, wenn du sie an einem sicheren Ort hättest«, insistiert Sethie. Für ihre Bewerbungsunterlagen hat sie sich einen extra Ordner besorgt. Und jedes College, für das sie sich bewirbt, hat darin sein eigenes Deckblatt.
»Mach dir darüber keine Sorgen«, wiederholt Rebecca.
Obwohl zwischen ihr und Rebecca immer noch genug Platz ist, rückt Sethie näher an den äußeren Rand der Couch.
Früher haben Sethie und ihre Mutter auf dieser Couch zu Abend gegessen. Der Fernseher war angeschaltet und sie haben ihre Teller auf den Knien balanciert. Mit dem Esstisch haben sie sich nie groß aufgehalten. Allerdings ist es ihr auf dem Sofa nie so eng vorgekommen, aber das war auch vor letztem Winter, als Sethie zur jährlichen Kontrolle beim Arzt war. Schon komisch, vor weniger als einem Jahr hat ihre Mutter sie noch zum Kinderarzt begleitet, während Sethie jetzt bereits zum Gynäkologen geht, denkt sie trocken. Sogar der Kinderarzt meinte, sie sei zu alt, um noch zu ihm zu kommen.
Im Untersuchungszimmer ist sich Sethie übermäßig groß vorgekommen. Der Tisch, für jüngere Patienten gedacht, war so niedrig, dass ihr Bein nicht mal hochschnellen konnte, als der Arzt ihre Reflexe testete. Das Metermaß an der Wand bescheinigte ihr eine Größe von einem Meter dreiundsechzig. Wahrscheinlich würde sie nicht mehr groß wachsen, sagte der Doktor, wobei er ein paar weitere Zentimeter im kommenden Jahr nicht ausschloss. Sethie hoffte, das würde nicht passieren. Sie war bereits fünf Zentimeter größer als ihre Mutter, und als der Kinderarzt ihr ihre Größe genannt hatte, hatte Rebecca gemeint, sie könne kaum glauben, ein so großes Mädchen zur Tochter zu haben. Etwas Ähnliches hat sie auch gesagt, als Sethie sich letztens einen BH kaufte. Sethie hat inzwischen auch größere Brüste als ihre Mutter.
Die Waage hat damals wartend in der Ecke gestanden. Eigentlich dachte Sethie, das Gewicht würde immer als Erstes kontrolliert, doch der Arzt schien zu wissen, dass eine schlimme Zahl dabei herauskommen würde, also schob sogar er die Sache auf. Fast sechzig Kilo. Sethie muss hoffnungslos geknickt ausgesehen haben, denn er sagte: »Nicht die Zahl, die du sehen wolltest, was?« Er machte sich nicht einmal die Mühe, sie zu beruhigen, dass dieses Gewicht bei ihrer Größe völlig normal sei und dass das Junior-Jahr schließlich sehr anstrengend sein konnte. Wer würde sich nach der Schule nicht noch schnell einen Snack besorgen, bevor es mit dem Vokabelpauken für den Eignungstest losging? Doch auch das gestand er ihr nicht zu. Und nein, es war nicht die Zahl, die sie hatte sehen wollen. Bei ihrem letzten Jahrescheck hatte sie noch zweiundfünfzig Kilo gewogen.
Ein Mädchen darf nicht einfach acht Kilo zunehmen, wenn sie noch an der Highschool ist. In ihrem ersten College-Jahr – ja, vielleicht, dachte Sethie. Und ein Mädchen wie ich darf eigentlich gar nicht zunehmen.
Ihre Mutter war natürlich ebenfalls anwesend. Das machten die immer so in Kinderarztpraxen.
An jenem Abend bemerkte Sethie zum ersten Mal, wie ihre Mutter sie ansah, wie sie ihr Tanktop betrachtete, das sich um ihren Bauch herum in Falten legte, wie sie ihre Beine musterte, die aus den Boxershorts herausragten, in denen sie schlief. Es war fast, als hätte Rebecca die Zahl auf der Waage überrascht und nun würde sie sie von Nahem
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