Stone Girl
sie in letzter Zeit nicht mehr besonders oft über die Zukunft nach. Sie hat ihre College-Bewerbungen früh fertiggestellt, alles Weitere liegt nicht in ihrer Hand. Sie muss nicht mehr darüber nachdenken. Sie muss nur mit Shaw in diesem Bett liegen, behaglich unter den erwachsenen Laken, und aufpassen, dass sie ihn nicht weckt.
Sethie erledigt Dinge gerne früh, wobei sie sich schon fragt, ob ihre Bewerbung nun ganz unten in den Stapeln liegen wird, weil sie so zeitig in jedem der Colleges angekommen ist. Ein College hatte sie aufgefordert, in ihrem Bewerbungsessay über ihre größte persönliche Leistung zu schreiben. Daraufhin hat sie tatsächlich angefangen, einen Aufsatz über ihr Gewicht unter der 50-Kilo-Marke zu verfassen und zu schildern, wie gut sich ihre Hüftknochen bei ihrer täglichen Beingymnastik auf dem Boden anfühlen, wie vorsichtig sie an ihrem Kaffee nippt und wie sparsam sie mit Erdnussbutter umgeht. Natürlich hat sie nicht im Traum daran gedacht, den Essay tatsächlich einzureichen. In der White muss man seinen Essay vorher mit dem College-Berater durchgehen, und ein Essay wie der ihre hätte in der gesamten Schule Alarm ausgelöst. Man hätte ihre Mutter angerufen und sie zur Therapie geschickt. Ganz offensichtlich war Gewichtsverlust keine collegetaugliche persönliche Leistung, auch wenn es die ehrlichste gewesen wäre. Also hat Sethie über die Produktion des letzten Jahrbuchs geschrieben, über damals, als sie noch zu den Treffen gegangen ist, als sie noch dachte, die seien wichtiger als ihr Gewicht.
Um fünf Uhr früh (Sethie hat auf die Digitaluhr auf ihrer Seite des Betts geschaut, vermutlich die Seite, auf der Janeys Vater schläft, denn die Uhr auf der anderen Seite ist hübscher und sieht altmodischer aus) hört Sethie Schritte. Hohe Absätze auf dem marmornen Boden im Eingangsbereich. Janey ist zu Hause, denkt sie.
Janey bleibt vor dem Zimmer ihrer Eltern stehen und öffnet die Tür. Vom Bett aus kann Sethie ihre Umrisse erkennen, die im Licht, das von der Diele hereinfällt, silbrig schimmern. Sethie weiß, dass sie aufstehen und Janey in ihr Zimmer folgen soll, um mit ihr über Doug zu sprechen. Sethie hat die Decke um sich gewickelt, während sie im Bett nach Shaws Poloshirt und seinen Boxershorts tastet, um sie sich schnell überzuziehen. Shaw ist viel größer und schwerer als Sethie. Der Bund seiner Boxershorts hängt lose an ihrem Bauch herunter. Sethie fühlt sich herrlich dünn, als sie aus dem Bett aufsteht.
Janey macht die Lichter in ihrem Zimmer nicht an. Sie öffnet ein Fenster, setzt sich auf die Fensterbank, zündet sich eine Zigarette an und hält Sethie dann ebenfalls eine hin. Von draußen dringt nur wenig Licht ins Zimmer, doch Sethie kann sich gut vorstellen, dass Janeys Schlüsselbein noch immer glänzt. Sie zündet sich auch eine Zigarette an und bläst den Rauch aus dem Fenster, während sie auf die Park Avenue hinunterschaut. Es ist nur ein kurzer Moment, bevor sie zu Janey hinübersieht. Sethies Blick fällt auf Janeys Zähne, die in dem schwachen Licht der Straße hell strahlen, genau wie die von Doug auf der Party. Janey lächelt breit, und ihr Lächeln verschwindet auch dann nicht, als sie die Zigarette zum Mund führt.
8
Sethie wacht vor Shaw auf. Still bleibt sie im Bett liegen und lauscht seinen Atemzügen. Es ist fast elf, aber wegen der heruntergelassenen Rollläden noch immer dunkel im Zimmer. Sie weiß, sie sollte wirklich nach Hause gehen. Obwohl sie gerade erst aufgewacht ist, ist der halbe Tag fast schon wieder rum. Sie muss ein Englischreferat fertig vorbereiten und außerdem noch Französischhausaufgaben machen. Sie wünschte, sie hätte sich etwas von ihrer Arbeit mitgenommen, dann hätte sie jetzt schon mal ein bisschen was erledigen können, während Shaw und Janey noch schlafen. Als sie noch klein war, ist sie bei Übernachtungsgeburtstagen immer als Erste aufgewacht. Sie hatte immer außer dem Schlafsack auch ein Buch eingepackt, und jetzt denkt sie daran zurück, wie sie unzählige Bände der Babysitter-Club -Reihe und der Boxcar Children ausgelesen hat, während die anderen noch schliefen.
Shaw aufzuwecken, zieht sie nicht mal in Erwägung, schließlich weiß sie von den Sommerferien noch gut genug, wie ärgerlich er wird, wenn man ihn gegen seinen Willen wachrüttelt. Ein Mädchen aus ihrer Klasse hat Sethie erzählt, sie habe einmal einen Jungen geweckt, indem sie ihm einen geblasen habe. Sethie glaubt nicht, dass so etwas
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