Stone Girl
betrachten, um zu begreifen, wie das hatte passieren können.
Doch andererseits, dachte Sethie, hatte Rebecca sie vielleicht immer schon so angeschaut. Sethie stellte sich Rebeccas Augen permanent vor, Augen, die ihr zusahen, wie sie ihre Pizza verschlang, wenn sie vom Eignungstest-Tutorium im Café zurückkam, wo sie eine heiße Schokolade mit Sahne getrunken hatte. Weil Rebecca so lange Arbeitstage hatte, kochte sie nie fürs Abendessen, sondern sie bestellten sich etwas. Rebecca hätte keine heiße Schokolade bestellt und die Pizza nahm sie immer mit Peperoni. Ganz bestimmt hatten Rebeccas Adleraugen jedes einzelne Gramm bemerkt, das sie nach den einzelnen Jahrbuchtreffen und den Tutorensitzungen zugenommen hatte.
Rebecca sah sich fast alle Fernsehsendungen an, die Sethie auch guckte. Nach dem Abendessen ließen sie das schmutzige Geschirr im Ausguss stehen und sahen im Dunkeln auf Rebeccas Bett fern. Sethie lag meistens auf der Seite. In ihren schwergewichtigsten Zeiten hat sie gemerkt, wie wenig vom Schwung ihrer Taille übrig geblieben war. Während der Werbepausen drückte sie mit dem Daumen dagegen. Als sie abnahm, merkte sie, wie ihre Taille wieder eine deutlichere Kurve beschrieb. Erst bekam sie die flache Hand und dann die aufgestellte Hand in den Zwischenraum zwischen Bett und Taille. Zu diesem Zeitpunkt hasste sie es bereits, in Rebeccas Zimmer fernzusehen, denn sie merkte, dass Rebecca, genau wie sie selbst, ihr noch immer die Schuld daran gab, überhaupt zugenommen zu haben.
Letzten Sommer hat sich Sethie zum Geburtstag einen eigenen Fernseher gewünscht.
In der Apotheke um die Ecke hat Sethie, ein paar Wochen, nachdem sie die 60 Kilo gesehen hatte, eine Waage gekauft. In der Zwischenzeit hat sie die Zahl, die so schrecklich weit in die Höhe geklettert war, schon wieder ein wenig reduziert. Jetzt hält sie die Waage wie Schmuggelware unter ihrem Bett versteckt. Rebecca hat nie erfahren, dass sie sie gekauft hat. Jeden Morgen steigt sie als Erstes darauf, noch bevor sie unter die Dusche geht. Doch heute hat sie sich nicht wiegen wollen. Sie ist sich sicher, dass die Zahl nach letzter Nacht zu hoch sein wird, auch wenn sie sich übergeben hat.
Rebecca braucht keine Waage im Haus. Rebecca ist die Art Frau, die sich um ihr Gewicht nie Sorgen machen musste. Da sie von Natur aus schlank ist, würde sie nie verstehen, wie schwer es für Sethie ist, sich bei einer Köstlichkeit Einhalt zu gebieten, und das auch, wenn sie eigentlich schon satt ist. Sethies Mutter ist schön. Zumindest für ihr Alter, 49. Sie ist schön, wie 49-jährige Frauen eben schön sind, nämlich so, dass man genau weiß, sie waren zweifellos mal begehrenswerte Mädchen. Seit sie nicht mehr ganz so jung ist, ist der Körper ihrer Mutter weicher geworden. Bestimmt hat sie nach ihren Zwanzigern oder Dreißigern ein bisschen zugenommen, aber dennoch, an ihr scheint kein Gramm Fett zu sein. Sethie hat Fotos von ihrer Mutter in der Highschool gesehen, ihren straffen Bauch in einem Zweiteiler. Sethie ist es müde, darüber nachzudenken, wie es wäre, jemandem zu erlauben, sie in einem Bikini abzulichten. Sie versucht sich vorzustellen, wie es überhaupt wäre, einen Bikini zu tragen, während jemand mit einem Fotoapparat in Sichtweite ist.
Jetzt schließt Sethie ihre Bücher, stapelt sie übereinander und nimmt sie hoch.
»Fertig?«, fragt Rebecca, wobei sie kaum von ihren Unterlagen aufblickt.
»Yep«, erwidert Sethie im Stehen. Sie lügt. Sie hat beschlossen, ihre Hausaufgaben in ihrem Zimmer fertig zu machen. Rebecca streckt die Beine aus, zieht ihre Fußspitzen an und streckt sie wieder. Ihre Füße, denkt Sethie, sind so perfekt wie die einer Puppe.
9
Jungs wie Shaw sagen nie »Ich liebe dich«, und Sethie weiß nicht, ob das bedeutet, dass Shaw sie zwar liebt, aber nicht darüber sprechen will, oder ob er sie nicht liebt, weil er einfach nicht der Typ ist, der sich in andere verknallt. Sethie fragt sich, was er wohl sagen würde, wenn sie ihm gestehen würde, dass sie ihn liebt. Und sie fragt sich auch, ob das eigentlich wirklich stimmt. Da sogar das Wort Freund für ihn tabu ist, hat sie nur eine vage Vorstellung davon, wie tabu dann erst das Wort Liebe sein muss.
Sie sind in ihrem Zimmer. Ihre Mutter ist heute Abend ausgegangen, zu einem dieser Essen ihrer Anwaltskanzlei. Also steht Sethies Tür offen, es wirkt beinahe trotzig.
Shaw liegt auf dem Bett und schaut fern, Sethie sitzt gegen das Bett gelehnt auf dem Boden und
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