Stone Girl
Bettkante hängen. Wahrscheinlich wacht er jeden Morgen mit schmerzenden Knien auf, weil er sie die ganze Nacht über angezogen hat.
»Fühlst du dich nicht manchmal wie Goldlöckchen?«
Er wirkt überrascht, Sethie in der Tür zu sehen, doch er zögert keine Sekunde mit seiner Antwort: »Beschwert die sich nicht eher darüber, dass die Betten zu hart oder zu weich sind? Von zu groß oder zu klein ist da nicht die Rede, oder?«
»Na ja, das kommt doch ungefähr hin.«
Ben lächelt. »Sehr ungefähr«, meint er.
»Nervt es dich nie, dass du und deine Möbel nicht richtig zusammenpassen?«
»Doch, schon. Und ich finde wirklich, es sollte eine Ermäßigung für Leute geben, die nur in eine Geländelimousine passen und im Flugzeug in die Businessclass-Sitze.«
Sethie lacht. »Klingt, als wär’s ’ne Behinderung.«
Ben lacht ebenfalls. »Manchmal kommt es mir wirklich so vor.«
Sethie nickt und wird plötzlich ganz ernst. Sie stellt sich vor, wie sich Ben in alle möglichen engen Räume zwängt, in die er nicht wirklich reinpasst, und sich wünscht, er wäre nur ein bisschen kleiner. Eigentlich sind sie sich in dieser Hinsicht ziemlich ähnlich.
Sethie blickt auf das Lehrbuch in Bens Schoß. Physik, glaubt sie. »Ich dachte, wenn man aufs College geht, braucht man endlich keine Lehrbücher mehr«, sagt sie.
»Was hast du denn gedacht, wie man auf dem College lernt?«
Sethie kommt nun ganz herein und schließt die Tür hinter sich. »Keine Ahnung, ich dachte, es wäre alles irgendwie erwachsener. Ich dachte, man liest Romane, Kurzgeschichten und Artikel.«
»Nun ja«, erwidert Ben und steht auf. »Mein Hauptfach ist Physik. In Physik gibt es quasi nur Lehrbücher.«
»Ah.«
»Was wird dein Hauptfach?«
Sethie lässt den Blick über seinen Schreibtisch schweifen, auf dem sich weitere Bücher stapeln. »Weiß ich noch nicht. Vielleicht Englisch. Oder Geschichte. Klingt ziemlich mädchenmäßig im Vergleich zu deinem Physikhauptfach.«
Ben schüttelt den Kopf. »Mein Nebenfach ist Englisch.«
Überrascht legt Sethie den Kopf schief. »Wirklich?«
»Ja. Schwerpunkt amerikanische Literatur.«
»Das ist genau das, was ich auch studieren will – die Schriftsteller des zwanzigsten Jahrhunderts. Ich würde gerne eine umfangreiche Seminararbeit schreiben, die belegt, dass selbst Autoren mit den unterschiedlichsten Stilen große Gemeinsamkeiten aufweisen: Hemingway, Faulkner und Steinbeck zum Beispiel.«
»Hast du dir schon überlegt, wie du das nachweisen willst?«
»Noch nicht. Aber das werde ich schon noch.«
»Das glaube ich auch«, erwidert Ben ernst. »Du wirkst wie ein Mädchen, das umsetzt, was es sich vorgenommen hat.«
Sethie lächelt. Sie hofft, dass Ben recht hat. Aber schließlich wollte sie auch weniger als 50 Kilo wiegen, und das tut sie jetzt. Zumindest meistens. Sie wollte beim Eignungstest mehr als 2200 Punkte bekommen, und das hat sie. Und sie wollte Shaw, und auch das hat sie geschafft. Oder wenigstens dachte sie, sie hätte es geschafft.
»Aber in deine Arbeit müssen auch noch ein paar Frauen mit hinein. Joan Didion. Katherine Anne Porter. Flannery O’Connor.«
»Flannery O’Connor habe ich nie gelesen.«
Ben greift nach einem Buch auf seinem Schreibtisch. »Hier«, sagt er. »Lies die Kurzgeschichte mit dem Titel Everything That Rises Must Converge .«
Sethie dreht das Buch um. »Mach ich.«
»Gut, denn ich erwarte ein vollständiges Gutachten.«
»Ich hätte nicht gedacht, dass du ein Literatur-Nerd bist.«
»Na, irgendwas muss ich ja tun, um den Physik-Nerd in mir auszugleichen.«
Sethie lächelt. »Vielleicht sollte ich Physik im Nebenfach belegen, um … um mich selbst auszugleichen.«
Ben lacht. »Ja, vielleicht solltest du das tun.« Er macht einen Schritt auf sie zu. »Darf ich dir den Mantel abnehmen?«
»Was?« Sethie blinzelt. »Nein. Ich bleibe nicht lange. Und hier drin ist es sowieso kalt.« Sethie sieht, dass seine Fenster trotz des kalten Dezemberwetters geöffnet sind. Sie ist enttäuscht. Sie dachte, ihr würde warm werden, wenn sie wieder mit Ben zusammen ist.
»Na ja, dann mach es dir doch trotzdem ein bisschen bequemer«, sagt er und deutet auf sein Bett und seinen Schreibtischstuhl, die einzigen beiden Sitzgelegenheiten in seinem Zimmer.
»Ben ist die Kurzform für Benjamin, oder?«
Ben nickt und setzt sich neben sie.
»Wenn die Dozenten also am ersten Unterrichtstag eure Namen aufrufen, musst du sie verbessern, stimmt’s? Du sagst dann immer:
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